Traditionell gilt die Dauphiné-Rundfahrt als wichtigste Generalprobe für die Tour de France. Doch 2022 haben sich einige der Favoriten zur Vorbereitung auf das französische Mega-Event für konkurrierende Veranstaltungen wie die Tour de Suisse oder die Tour of Slovenia entschieden.
Der vorletzte Tag der anstehenden 74. Auflage des Critérium du Dauphiné wird es in sich haben. Denn am 11. Juni wird auf der siebten, mit 134 zu fahrenden Kilometern nicht sonderlich langen, dafür aber hammerschweren Etappe womöglich eine Vorentscheidung über den Gesamtsieg bei der achttägigen und rund 1.190 Kilometer langen Rundfahrt fallen. Wobei auf der Strecke zwischen den Alpenstädtchen Saint-Chaffrey und Vaujany einige der bekanntesten und gefürchtetsten Berggipfel des internationalen Radsports wie der Col du Calibier, der Col du Télégraphe und der Col de la Croix-de-Fer bezwungen werden müssen. Einen Monat später werden einigen der Fahrer auf der zwölften Etappe der Tour de France 2022, die in den ersten drei Juliwochen über die Bühne gehen wird, ein Déjà-vu-erleben. Denn ein Großteil dieser Tour-Etappe wird sich mit der Dauphiné-Streckenführung überschneiden, nur der legendäre Schlussanstieg nach Alpe d’Huez bei der kommenden Frankreich-Rundfahrt wird beim Critérium durch eine nicht ganz so anstrengende Klettervorgabe über 5,7 Kilometer mit durchschnittlicher Steigung von 7,2 Prozent ersetzt sein. Für die Favoriten der Grand Tour durch Gallien, dem nach den Olympischen Spielen und der Fußball-Weltmeisterschaft größten Sport-Event der Welt, scheint es daher auch dieses Jahr wieder überaus hilfreich und sinnvoll zu sein, sich durch die Teilnahme an der Dauphiné-Rundfahrt optimal auf die Tour de France vorzubereiten. Und dabei vorab schon einen der möglichen Knackpunkte für die Gesamtwertung in allen Einzelheiten kennenzulernen.
Beim Sichten der provisorischen Dauphiné-Starterliste, die sogar knapp zehn Tage vor dem Départ am 5. Juni 2022 noch ziemlich unvollständig war – aber natürlich immerhin alle 18 UCI WorldTeams sowie vier zweitklassige, mit Wildcards ausgestattete Mannschaften aufgeführt hatte – musste diesmal allerdings überraschenderweise das Fehlen manch prominenter Radfahrer-Namen registriert werden. Vor allem das Team Ineos Grenadiers hat sich als Generalprobe für seinen britischen Tour de France-Mitfavoriten Geraint Thomas, dessen ebenfalls für die Frankreich-Rundfahrt vorgesehenen Landsmann Thomas Pidcock sowie für den Kolumbianer Daniel Felipe Martinez heuer die Tour de Suisse auserkoren, die vom 12. bis 19. Juni 2022 wieder über anspruchsvolles Terrain führen wird, auch wenn das Streckenprofil diesmal weniger zu erklimmende Alpenpässe aufweist. Auch Bora-hansgrohe lässt einige seiner Tour de France-Kandidaten wie den Deutschen Maximilian Schachmann oder den Russen Alexander Wlassow ihre Form in der Schweiz testen. Gleiches gilt für den Franzosen Thibaut Pinot von Groupama-FDJ, der bei der Tour de France im Kampf um das Bergtrikot ein Wörtchen mitreden möchte, und seinen Schweizer Mannschaftskameraden Stefan Küng. Für Bahrain Victorious werden sich der Schweizer Gino Mäder und der Italiener Damiano Caruso im Land der Eidgenossen den letzten Tour-Schliff holen. Jumbo-Visma lässt seine Farben in der Schweiz durch den für die Tour de France gesetzten US-Rennfahrer Sepp Kuss vertreten, während der Großteil des achtköpfigen Teams für die Frankreich-Rundfahrt rund um den slowenischen Tour de France-Mitfavoriten Primož Roglič bei der Dauphiné am Start sein wird. Einige Tour de France-Starter wie die beiden Top-Sprinter Caleb Ewan aus Australien von Lotto Soudal oder Fabio Jakobsen aus den Niederlanden von Quick-Step-Alpha-Vinyl haben sich als Generalprobe die Belgien-Rundfahrt ausgewählt, die vom 15. bis 19. Juni stattfindet.
„Am Ende sind wir oft alleine"
Der 23-jährige slowenische Superstar Tadej Pogačar glänzt wieder einmal durch seine Abwesenheit sowohl bei der Dauphiné als auch bei der Tour de Suisse. Nach seinen beiden Tour de France-Triumphen ist er mit einem Jahresgehalt von sechs Millionen Euro zum Top-Verdiener im internationalen Radsport aufgestiegen. Das durchschnittliche Jahressalär der WorldTour-Fahrer wird auf circa 270.000 Euro geschätzt, der jährliche Mindestlohn liegt bei bescheidenen 38.000 Euro. Als Kapitän des UAE Teams Emirates ist Tadej Pogačar wieder in seiner Heimat bei der fünftägigen Tour of Slovenia vom 15. bis 19. Juni 2022 am Start, nachdem er sich zu Hause nach seinen Auftritten bei den Frühjahrs-Klassikern eine Auszeit gegönnt und eine große Menge an Sponsorenterminen wahrgenommen hatte. Inzwischen hat er sein Trainingspensum wieder deutlich hochgefahren und außerdem angekündigt, sich vor Ort in Frankreich schon mal den Streckenverlauf der wichtigsten Tour de France-Etappen in den Pyrenäen und den Alpen ansehen zu wollen.
Als seinen schärfsten Konkurrenten für den Tour de France-Sieg 2022 hat er, wenig überraschend, seinen Landsmann Primož Roglič auserkoren. „In jedem Rennen, das wir zusammen mit Primož haben, sind wir Konkurrenten um den Sieg. Am Ende sind wir oft allein. Wir fahren uns gegenseitig ins Ziel, jeder will für sein Team gewinnen. Auf der Tour wird es genauso sein, ich freue mich schon jetzt auf dieses Duell." Allerdings spürt Pogačar inzwischen auch den Druck und die Erwartung des unbedingten Siegenmüssens. „Der Druck für die diesjährige Tour ist schon da. Aber es motiviert mich zusätzlich. Ich weiß, dass die Menschen um mich herum an mich glauben. Ich gehe mit einem entsprechenden Ansatz zur Tour, damit ich den Triumph noch einmal wiederholen und zum dritten Mal das Gelbe Trikot gewinnen kann." Neben Pogačar nutzen auch sein bei Bahrain Victorious unter Vertrag stehender Landsmann Matej Mohorič oder der Niederländer Dylan Grönewegen vom Team BikeExchange Jayco die Tour of Slovenia für einen letzten Formtest vor der Frankreich-Rundfahrt. Den französischen Weltmeister Julian Alaphilippe vom Quick-Step-Alpha-Vinyl-Team wird man vor der Tour de France bei keinem Vorbereitungsrennen sehen können. Denn der befindet sich nach seinem Horrorunfall mit kollabierter Lunge und gebrochenem Schulterblatt beim Klassiker Lüttich-Bastogne-Lüttich nach der Reha derzeit noch im Aufbautraining. Ob er es bis zum Start der Frankreich-Rundfahrt schaffen wird, steht aktuell noch in den Sternen.
Bei der am Sonntag, dem 12. Juni 2022 mit einer extrem schweren Schlussetappe über den Le-Grand-Bornand, den Col de la Colombière und schließlich hinauf zum Plateau de Solaison (11,3 Kilometer lange Steigung mit durchschnittlich 9,2 Prozent) endenden Dauphiné-Rundfahrt dürfte kein Weg zum Sieg an dem bärenstark aufgestellten Jumbo-Visma-Team vorbeiführen. Mit dem Belgier Wout van Aert, dem Niederländer Steven Kruijswijk und dem Dänen Jonas Vingegaard, dem Zweitplatzierten der Tour de France 2021, hat Kapitän Primož Roglič schon das halbe Team der Frankreich-Rundfahrt an seiner Seite. Und da zudem auf der vierten Etappe von Montbrison nach La Bâtie d’Urfé ein mit fast 32 Kilometern ungewöhnlich langes, wenn auch weitgehend über flaches Terrain führendes Einzelfahren wartet, dürfte das dem auch als Speed-Spezialisten bekannten Kletterkünstler Roglič wahrscheinlich im Duell mit dem Franzosen Rémi Cavagna vom Quick-Step-Alpha-Vinyl-Team zusätzlich in die Karten spielen.
Duell der Kletterkünstler
Auf den ersten drei Etappen mit dem Novum eines Dauphiné-Auftakts in der Ardèche und dem Zwischenziel Zentralmassiv können sich die Sprinter Hoffnungen auf einen Erfolg machen. Massensprints bei den ersten beiden Etappen sind wahrscheinlich, bei der dritten Etappe mit einer mittelschweren Bergankunft dürften etwas kletterfestere Sprinter die Nase vorn haben. Auch die fünfte Etappe durch die Hügel des Beaujolais ist auf die Männer mit den schnellen Beinen zugeschnitten. Kniffliger dürfte dann schon die sechste Etappe mit der Route in Richtung Alpen und dem Ziel in Gap werden. Das Team Alpecin-Fenix rund um den niederländischen Top-Fahrer Mathieu van der Poel verzichtete aus eigenen Stücken auf eine Teilnahme. Aber dennoch gibt es genügend Profis, die sich zumindest Hoffnungen auf einen Podiumsplatz vor ihrem Tour de France-Start machen können. Beispielsweise der Pole Rafał Majka von UAE Team Emirates, der Franzose Warren Barguil vom Team Arkéa Samsic oder der Niederländer Dylan van Baarle von Ineos Grenadiers. Aus deutscher Sicht wird sich Simon Geschke von Cofidis seinen letzten Schliff für die Frankreich-Rundfahrt holen. Einige Stars wie der Kolumbianer Nairo Quintana vom Team Arkéa Samsic haben für keinerlei Tour de France-Generalproben gemeldet. Andere jedoch wie der Brite Simon Yates vom Team BikeExchange Jayco, der Niederländer Bauke Mollema von Trek-Segafredo oder der Franzose Guillaume Martin von Cofidis kommen direkt vom diesjährigen Giro d’Italia und muten sich damit mit der Tour de France eine kräftezehrende Doppelbelastung zu. Die beiden Dominatoren des Giro d’Italia 2022, der Ecuadorianer Richard Carapaz von Ineos Grenadiers und der Australier Jai Hindley von Bora-hansgrohe, gönnen sich währenddeessen erst einmal eine Auszeit und lassen die Tour de France aus.