Nach dem Wahldebakel in Berlin ist ein Dreivierteljahr lang nichts passiert. Jetzt wurden Zehntausende Wahlprotokolle veröffentlicht, die die enormen Pannen belegen und eine Wahlwiederholung wahrscheinlicher machen.
Alle Jahre wieder listet das Hauptstadtmagazin „Tip" Ende Dezember die „hundert peinlichsten Berliner" auf. Das letzte Mal tauchten auf dieser sehr subjektiven Liste außer Schauspielerinnen, Sängern und Unternehmensgründern auch Politiker wie Klaus Wowereit, Jens Spahn und Berlins Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey auf. Platz sechs aber belegte weder ein Politiker noch ein Promi, sondern das Berliner Wahlchaos. Denn nur drei Monate zuvor hatte jene berüchtigte Vierfachwahl in der deutschen Hauptstadt stattgefunden, die zu einem heftigen Debakel führen sollte: Die Wahlberechtigten sollten nicht nur den Deutschen Bundestag, das Berliner Abgeordnetenhaus und die Bezirksverordnetenversammlung wählen, sondern auch noch ein zusätzliches Kreuz in Sachen Volksentscheid für oder gegen die Enteignung großer Wohnkonzerne setzen. An jenem sonnigen Superwahltag kamen schließlich so viele Wahlpannen zusammen, dass drei Tage später die damalige Landeswahlleiterin Petra Michaelis das Handtuch warf und zurücktrat. Bereits im November forderte der Bundeswahlleiter Georg Thiel eine Wahlwiederholung in sechs der zwölf Berliner Bundestagswahlkreise. Doch erst jetzt, acht Monate später, beschäftigen sich der Verfassungsgerichtshof Berlin und der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags mit den Verfehlungen vom 26. September 2021.
Neuwahlen könnten nötig werden
Im Wahlprüfungsausschuss Ende Mai wiederholte der Bundeswahlleiter während der knapp sechsstündigen Verhandlung seine Forderung nach Neuwahlen in den entsprechenden Wahlkreisen. Georg Thiel sprach von einem „kompletten systematischen Versagen der Wahlorganisation". Die „Schwere, Vielzahl und die Nichtnachweisbarkeit" von Wahlfehlern haben den Wahlleiter überzeugt, dass keine andere Lösung möglich sei. Wahlrechtliche Vorschriften seien verletzt worden und stellten deshalb Wahlfehler dar, die unter anderem den Grundsatz der Allgemeinheit der Wahl nach Artikel 38 des Grundgesetzes beeinträchtigt hätten. Die Wahlfehler seien zu gravierend für ein Festhalten am aktuellen Ergebnis. Die stellvertretende Berliner Landeswahlleiterin Ulrike Rockmann sagte bei der Anhörung hingegen, sie halte die Mängel für nicht so gravierend, dass erneut abgestimmt werden müsste.
Die Mängelliste indes ist lang: In einigen Wahllokalen fehlten Wahlkabinen oder sogar Stimmzettel. Teilweise gab es falsche Wahlunterlagen, weil die Unterlagen verschiedener Bezirke vertauscht worden waren. Einige Wahlberechtigte mussten mehr als eine Stunde warten und wurden zum Teil unverrichteter Dinge wieder heimgeschickt. Andere konnten teilweise noch bis 19 Uhr oder später zur Urne gehen – und damit ihr Votum den ersten Hochrechnungen anpassen. Anderswo in Berlin ließ man Minderjährige abstimmen, obwohl sie gar nicht wahlberechtigt waren.
„Hier sind die Mängel so massiv, und es ist vor allem manipuliert worden", sagt der Staatsrechtler und Ex-Justizsenator Rupert Scholz (CDU) in einem Video-Talk mit dem Politikmagazin „Tichys Einblick" („TE"). „Ich erinnere hier an die Äußerungen des damaligen Innensenators Geisel, der sofort erklärt hat, es handele sich lediglich um ein paar Versehensfälle, und es sei nichts wirklich Relevantes passiert." Dabei habe der Senator zu dem Zeitpunkt gar nicht wissen können, was wirklich passiert sei. „So hat man begonnen zu manipulieren und zu verstecken." Das Magazin „TE" selbst wirft dem Sozialdemokraten eine Verschleierungstaktik vor: „Die notwendige und von Geisel angekündigte Überprüfung und Aufarbeitung hat nicht stattgefunden. Bis heute hüllt man sich in Schweigen und scheint einfach weitermachen zu wollen, als wäre nichts gewesen." Das Magazin spricht während des Talks sogar von einem „Schweigekartell", in dem „alle Seiten mit drinhängen": der Berliner Senat, die Bezirksregierungen und der Verfassungsgerichtshof in Berlin. Kritik an mangelnder Transparenz kommt auch vom Berliner „Tagesspiegel": Nach der „Chaoswahl", so schreibt die Zeitung, hätten sich „die Bezirke geweigert, die Protokolle aus den 2.257 Wahllokalen zu veröffentlichen". Sie sollen sie erst herausgegeben haben, nachdem das Landesverfassungsgericht sie dazu angefordert hatte.
Mittlerweile liegen Zehntausende Seiten an Protokollen aus den Berliner Wahllokalen vor. Die Wahlunterlagen waren ursprünglich nicht eingescannt und damit schwerer auszuwerten. Ein Team des „TE"-Magazins digitalisierte sie daraufhin und stellte sie anderen Medienhäusern zur Verfügung. „Die Berichte zeichnen das Bild einer demokratischen Verheerung bis hin zu möglichen Strafrechtsverstößen", schreibt der „Tagesspiegel", nachdem er Teile der unzähligen Unterlagen gesichtet hatte. Mal seien die Protokolle und Berichte nicht unterschrieben, mal würden keine Wählerverzeichnisse geführt. Eklatante Abweichungen bei der Auszählung würden mit Worten wie „eventuell", „vermutlich", „wahrscheinlich" oder „aus Versehen" erklärt und damit abgetan, kritisiert das Blatt.
Folgt man den Aussagen in den Protokollen, ist es am Superwahltag in Friedrichshain-Kreuzberg besonders desaströs abgelaufen. In den 126 Wahllokalen sind „TE" zufolge „alle Fehler vorgekommen, die man sich vorstellen kann". Hier wurden mehr Stimmen abgegeben, als im Wahlregister verzeichnet waren. Dort hätten „zwei Drittel der Wahllokale" verspätet geschlossen. Und es hätten „im ganzen Bezirk" falsche Wahlzettel für die Zweitstimme in den Wahllokalen vorgelegen. So füllten die Kreuzberger Wahlzettel für Berlin-Charlottenburg aus.
Entscheidung frühestens im Winter
Das heißt, sie entschieden sich für Listenkandidaten, die in ihrem Bezirk gar nicht zur Wahl standen. Dieser Fehler wurde erst später bemerkt, und man erklärte die betroffenen Stimmen abends zunächst für ungültig. Doch nur wenige Tage später wurden die ungültigen Stimmen mit dem Rotstift nachträglich wieder zu gültigen gemacht. Das geschah den Recherchen von „TE" zufolge auf Anweisung der Innensenatsverwaltung sowie „zum Vorteil von Rot-Rot-Grün".
Nicht nur Neuwahlen, sondern auch eine „strafrechtliche Aufarbeitung" fordert indes der Ex-Abgeordnete Marcel Luthe. Denn, so sagte der 44-Jährige, „wer so lapidar mit Wahlen in einer Demokratie umgeht, der gefährdet die Demokratie". Bereits kurz nach der Wahl im September hatte Marcel Luthe, einst Spitzenkandidat der Freien Wähler, vor dem Verfassungsgerichtshof Einspruch gegen die Berlin-Wahl eingereicht.
Falls es zu einer Teilwiederholung kommen sollte, wie vom Bundewahlleiter gefordert, wäre nicht nur Friedrichshain-Kreuzberg betroffen. Neu gewählt werden müsste auch in den Wahlkreisen 75 in Berlin-Mitte, 76 in Pankow, 77 in Reinickendorf, 79 in Steglitz-Zehlendorf sowie 80 in Charlottenburg-Wilmersdorf. Die Ergebnisse hätten nicht nur Folgen für das Berliner Abgeordnetenhaus, sondern könnten auch die Sitzverteilung im Bundestag beeinflussen. Der Verfassungsgerichtshof hat Anhörungen für den Herbst angekündigt. Mit einem Ergebnis ist frühestens im Winter zu rechnen. Am Ende aber entscheiden die Abgeordneten des Bundestags über eine Wahlwiederholung. Dann ist die umstrittene Wahl schon fast anderthalb Jahre her.