Nach einem scheinbar guten Start in die Ampel-Regierung gerät die FDP zusehends unter Druck. Zum guten Teil selbstverschuldet. Den Liberalen droht zudem Ungemach aus Berliner Wahlbezirken.
Es gibt Tage, die vergisst FDP-Chef Christian Lindner so schnell nicht. Einer dieser Tage dürfte Freitag, der 3. Juni dieses Jahres sein. Der Bundestag hat den Haushalt 2022 endgültig mit dem Rekordetat von 496 Milliarden Euro verabschiedet. Für Bundesfinanzminister Lindner kein Grund zum Jubeln. Der Haushalt für das laufende Jahr sieht neue Rekord-Schulden von 140 Milliarden Euro vor. Was die Sache für Lindner noch verschlimmert: Er musste seinen ursprünglichen Schuldenplan innerhalb weniger Wochen selbst aufstocken. Geplant waren ursprünglich 100 Milliarden neue Schulden, doch schon wenige Wochen später reichte es vorne und hinten nicht mehr, Lindner legte einen „Ergänzungshaushalt" mit weiteren 40 Milliarden Schulden vor. Ein neues Wort im Parlamentsdeutsch. Doch wenn der vom Finanzminister vorgelegte Ausgabenplan, noch nicht vom Parlament verabschiedet, innerhalb weniger Wochen Makulatur ist, kann dieser nicht als Nachtragshaushalt eingebracht werden. Darum nun eben „Ergänzungshaushalt".
Ein einmaliger Vorgang in der über 70-jährigen Parlamentsgeschichte, und ausgerechnet ein liberaler Finanzminister, der sich auf die Fahnen geschrieben hat, das Land wieder auf solide Finanzen umstellen zu wollen, muss das verantworten. Selbst in den Reihen seiner liberalen Freunde durfte er sich deswegen ordentlich Kritik anhören. Es wächst der Eindruck – nicht nur in der FDP-Bundestagsfraktion –, dass Lindner sein Haus nicht im Griff hat. Das Argument, der Krieg in der Ukraine habe die ursprüngliche Planung auf den Kopf gestellt, wollten viele in der Fraktion so nicht gelten lassen. Obendrein hatte sein koalitionsinterner Kontrahent, Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), die Aufgabenverteilung Mitte Mai auf den treffenden Punkt gebracht: „Christian Lindner zahlt".
140 Milliarden Euro Schulden geplant
Der Grüne und derzeitige Politsuperstar sprach vor den Arbeitern der PCK-Schwedt, der derzeit bekanntesten Ölraffinerie im Osten Deutschlands, über ihre berufliche Zukunft, wenn das Öl nicht mehr aus der Druschba-Pipeline aus Russland kommt. Viele Investitionen würden nötig, um von russischem auf arabisches oder norwegisches Rohöl umzustellen. Tenor: Der Christian zahlt das schon. Kein gutes Omen für den im Selbstverständnis soliden Ordnungs- und Finanzpolitiker Lindner. Die finanziellen Begehrlichkeiten allein für die Umstellung der Öl- und Gaslieferungen in den kommenden Monaten werden nicht weniger, sondern mehr. Für die FDP droht das zu einem politischen Fiasko zu werden, da dies nur über einen tatsächlichen Nachtragshaushalt, also weitere Schulden, zu stemmen ist. Längst kursieren Zahlen von einer tatsächlichen Neuverschuldung von gut 200 Milliarden Euro – dabei fehlen allerdings noch die 100 Milliarden Euro Sondervermögen Bundeswehr. Nicht schön für den Finanzminister, doch Lindner wollte diesen Job unbedingt haben. Es ging ihm machtpolitisch auch um das Vetorecht innerhalb der Ampel-Regierung. Finanzminister haben in allen Fragen, die haushaltswirksam sind, also Ausgaben verursachen, ein Vetorecht.
Habeck ist zwar Vizekanzler, aber Lindner kann Entscheidungen blockieren, doch davon macht er bislang keinen Gebrauch. Dazu kommen die von der eigenen Partei forcierten Entscheidungen der letzten Wochen. Stichwort: Tankbonus. Diese gut gemeinte Initiative fliegt den Liberalen regelrecht um die Ohren. Klimaschützer monieren, damit würde dem SUV-fahrenden Volk, also in ihrem Verständnis potenziellen FDP-Wählern, ein Gefallen getan, um mit ihrem Familienpanzer preiswert mobil zu bleiben. Wer viel tanken muss, spart seit dem 1. Juni viel und kann sich weiter auf Kosten der Umwelt fortbewegen, so der Vorwurf der Umweltaktivisten. Und Sozialpolitiker reihen sich gleich in die Kritik ein. Ihr Argument: Menschen mit Kleinwagen würden eben nicht so viel sparen wie Autofahrer mit einer dicken Maschine unter der Motorhaube. Die unteren Einkommensgruppen hätten wieder das Nachsehen. Alle Klischees über die Liberalen als Partei für die Menschen auf der sozialen Sonnenseite des Lebens scheinen sich damit wieder einmal zu bestätigen. Erinnerungen an die Mövenpick-Steuer von 2009 werden wieder wach. Genau das sollte bei der erneuten Regierungsbeteiligung verhindert werden. Christian Lindner wollte in die bürgerliche Mitte zurück, hatte dies auch mit der Bundestagswahl im vergangenen Jahr geschafft, doch nun scheint nach 23 Wochen Regierungsbeteiligung beinah auch das schon wieder verspielt zu sein.
Die erste Nagelprobe für seine Partei war die Landtagswahl im Saarland. Die Liberalen verpassten zum dritten Mal in Folge den Einzug ins Parlament. Lindner konnte das noch als lokales, rein saarländisches Ergebnis abtun. Doch spätestens als die Regierungsbeteiligung an der Waterkant für die Liberalen verloren ging, läuteten die Alarmglocken. Die Jamaika-Koalition in Kiel hatte fünf Jahre lang geräuschfrei regiert, obendrein hatte sich FDP-Chef Lindner im Wahlkampf mit seinem Altvorderen vor Ort, Wolfgang Kubicki, mächtig ins Zeug gelegt. Doch die Regierungsbeteiligung ist passé, obwohl der alte und nun auch designierte neue schleswig-holsteinische Ministerpräsident Daniel Günther (CDU) ohne politische Notwendigkeit die FDP zu einer Neuauflage von Jamaika eingeladen hatte. Eine kurze Hoffnung für die Liberalen, doch die Grünen spielten da nicht mit.
Der nächste richtige Tiefschlag für die Liberalen kam eine Woche später in Nordrhein-Westfalen. Das Wahlergebnis der FDP halbiert und eine weitere Regierungsbeteiligung auf Landesebene damit erledigt. Ausgerechnet im Stammland von Christian Lindner, der auch hier nach Kräften wahlkämpfte. Offen sprach er nach dieser erneuten Watschen von einer „desaströsen Niederlage". Er versuchte gar nicht erst auszuräumen, dass zu dieser Wahlniederlage wohl auch die Bundesbeteiligung der Liberalen beigetragen hat. Viele in der FDP fragen sich nun nicht ganz zu Unrecht, ob es im Oktober auch noch eine weitere Klatsche bei der Landtagswahl in Niedersachsen braucht, bis die Bundespartei aufwacht. Gemeint ist damit vor allem Christian Lindner als Parteivorsitzender.
Keine FDP-Erfolge bei den Landtagswahlen
Während die beiden anderen Koalitionspartner in ihren Parteien Ministerämter und Parteivorsitz getrennt haben und von Doppelspitzen geführt werden, ist die FDP immer noch eine One-Man-Show von und mit Christian Lindner. Die Wahlverluste an der Küste, an Saar, Rhein und Ruhr werden von Parteifreunden klar auf Lindner und die Regierungsbeteiligung im Bund zurückgeführt.
Letzte Chance für Lindner als omnipräsenter Oberliberaler ist nun die Landtagswahl in Niedersachsen am 9. Oktober. Dort sitzt die FDP derzeit mit 7,5 Prozent im Landtag. Noch. Laut Demoskopen sieht es nicht gut aus. Auch die Meinungsforscher machen als einen Grund für die bescheidene Zuneigung der Wähler die Regierungsverantwortung in Berlin aus. Doch da kommt die FDP so schnell nicht raus, will sie nicht als unsicherer Kantonist oder Umfaller gelten.
Allerdings könnte sich die liberale Regierungsbeteiligung auch auf ganz anderem Weg erledigen. Es gilt als sicher, dass die Bundestagswahl vom letzten Jahr in Berlin mindestens in sechs der zwölf Wahlbezirke wiederholt werden wird. Nach Hamburg 1991 wäre es das zweite Mal in der deutschen Nachkriegsgeschichte, dass ein Urnengang für den obersten Souverän wiederholt werden muss. „Die Wahlen in Berlin wurden derart dilettantisch organisiert, dass kein Weg daran vorbeiführt", so Bundeswahlleiter Georg Thiel gegenüber FORUM.
Nach dem derzeitigen Stand der Meinungsforscher ist es in diesem Fall aber fraglich, ob die Linke tatsächlich erneut ihre beiden Direktmandate in Berlin verteidigen kann. Geht auch nur eines davon verloren, verliert die Linke im Bundestag ihren Fraktionsstatus, 37 der derzeit insgesamt 39 Abgeordneten der Linken müssten ihren Platz im Halbrund des Plenarsaales räumen. Damit würden sich automatisch die Mehrheiten im Bundestag verändern. Gleichzeitig ist ziemlich wahrscheinlich, dass die Grünen bei einer Bundestagswahlwiederholung in den Berliner Wahlbezirken ein noch besseres Ergebnis einfahren als im vergangenen September. Bliebe die SPD stabil, dann wäre nicht ausgeschlossen, dass es für eine rot-grüne Bundesregierung allein reicht, die FDP würde als Partner nicht mehr gebraucht. Keine guten Aussichten für die Liberalen und ihren Vorsitzenden.