Sie ist extrem schwer zugänglich und birgt Zehntausende Jahre alte Felsmalereien: die Grotte Cosquer an der französischen Mittelmeerküste. Vor knapp 40 Jahren entdeckte ein Taucher zufällig den Eingang in 35 Metern Tiefe – jetzt wird in Marseille ein Museum mit einer Nachbildung der prähistorischen Grotte eingeweiht.
Ein frühsommerlicher Nachmittag im Städtchen Cassis nicht weit von Marseille (siehe Seite 44). Auf dem Platz vor dem Rathaus ist eine kleine Ausstellung mit großformatigen Fotos aufgebaut, genauer, sie sind am Zaun des klassizistischen Gebäudes montiert. Die Motive: Einblicke in eine Höhle mit vielfarbigen Tropfsteinformationen, Felsmalereien und schwarz umrandeten Abdrücken von unterschiedlich großen Händen, dazu eine Grafik mit einem Querschnitt durch die sogenannte Grotte Cosquer. Die wurde vor 37 Jahren vom Taucher Henri Cosquer entdeckt, er hatte in etwa 35 Metern Tiefe einen schmalen Felskanal gefunden und war diesem gefolgt. Eine spontane Entscheidung, die nicht nur sein Leben verändern, sondern zu einer der wohl wichtigsten Entdeckungen prähistorischer Kultur in Frankreich führen sollte.
Henri Cosquer, der jahrzehntelang eine Tauchschule in Cassis betrieben hat, kommt regelmäßig an der Open-Air-Ausstellung der von ihm gemachten Fotos vorbei. Und wenn er beginnt, von der Entdeckung der Grotte zu erzählen, haben Zuhörer das Gefühl, für den mittlerweile 72-Jährigen habe dieser spektakuläre Moment erst gestern stattgefunden. Cosquer hatte in verschiedenen Tauchgängen den Versuch gemacht, durch die 116 Meter lange sogenannte Galerie, einen leicht aufsteigenden Kanal zu tauchen, an dessen Ende er sich in einer fast ebenen und über dem Wasser liegenden Höhle befand. Nach und nach habe er diese erforscht, sich stets mit Mitgliedern seines Teams auf dem Tauchboot verabredet, so dass diese Hilfe geholt hätten, wäre er nicht rechtzeitig aufgetaucht, erzählt der Mann mit dem wettergegerbten Gesicht. Immer wieder zog es den professionellen Taucher in die Höhle, er begann, die Topografie des unebenen Geländes unter Tage mit Fotos, später auch mit Filmaufnahmen zu dokumentieren. Er entdeckte, dass die Grotte aus zwei durch enge Passagen miteinander verbundenen „Räumen" bestand, einem 24 Meter tiefen „Brunnen" und dass vier Fünftel der Gesamtfläche unter Wasser lagen. Cosquer war von der Vielfalt und dem Farbenreichtum der Tropfsteinformationen beeindruckt, doch eine ganz besondere Entdeckung machte er, als er sich durch eine enge Passage bewegte und dabei der Schein seiner Lampe auf den Umriss einer Hand auf dem Felsen fiel.
Vier Fünftel der Gesamtfläche liegen unter Wasser
Zurück auf dem Tauchboot wollte ihm sein Kollege zuerst nicht glauben, drei Tage musste Cosquer auf die Entwicklung seiner Fotos warten. Dann hatte er es im wahrsten Sinne „Schwarz auf Weiß" – an den Wänden der unter Wasser liegenden Höhle befanden sich dunkel umrandete Umrisse von Händen, die Menschen hier vor Tausenden, wenn nicht Zehntausenden Jahren hinterlassen haben mussten. Cosquer entdeckte bei der weiteren Erforschung der Grotte eine Vielzahl von Malereien, von Pferden und einem Bison aber auch von einem pinguinähnlichen Wasservogel, bei dem es, da sind sich Experten heute einig, um den sogenannten Riesenalk handeln soll. Dessen letzte Exemplare wurden Mitte des 19. Jahrhunderts im Norden Europas gesichtet.
In der Zwischenzeit hatte die Geschichte von der spektakulären Entdeckung der Höhle ihre Runde in der Taucherwelt gemacht, andere versuchten sich an Tauchgängen, und 1991 kam es zu einem tragischen Unfall mit drei Toten. Henri Cosquer beschloss, seinen Fund bei den Behörden zu melden, die ein Zugangsverbot für nicht autorisierte Taucher erließen.
Anfang der 1990er-Jahre beauftragte das französische Kulturministerium die Prähistoriker Jean Courtin und Jean Clottes mit der systematischen Erforschung der „Grotte Cosquer". Mittlerweile geht man davon aus, dass die Malereien und Gravuren vor 19.000 bis 30.000 Jahren von den damals in der Region lebenden Menschen hinterlassen worden sind. Damals, so haben Courtin, Clottes und andere Prähistoriker herausgefunden, war der Meeresspiegel am Cap Morgiou, dem Fundort der Grotte, etwa 120 Meter niedriger als heute und das Meer selbst etwa zwölf Kilometer vom heute unter Wasser liegenden Eingang der Grotte entfernt. In der Grotte wurden bei weiteren wissenschaftlichen Tauchgängen über einen später entdeckten zweiten Eingang – mittlerweile ist der ursprüngliche Eingang aus Sicherheitsgründen versperrt – rund ein Dutzend Werkzeuge aus Feuerstein, Muscheln, Spuren von Holzkohle und Lagerfeuern auf dem Höhlenboden entdeckt. Dazu etwa 500 Malereien, Handnegative, figürliche und abstrakte Gravuren. Zu den spektakulärsten Funden gehören die Darstellungen von elf verschiedenen Tierarten – am häufigsten sind dabei Steinböcke und Gämsen entweder mit Holzkohle auf den Felsen gezeichnet oder mit Feuersteinen hineingeritzt worden. Dazu kommen Pferde, Auerochsen, ein katzenähnliches Tier sowie verschiedene Fische, Robben und die berühmt gewordenen Pinguine. Die Umrisse dreier dieser Vögel sind mit Holzkohle auf den Felsen gezeichnet worden, zwei von ihnen scheinen sich einander gegenüberzustehen und um das dritte, deutlich kleinere Tier, ein Weibchen, zu streiten. Die kunstvolle und sehr gut erhaltene Darstellung der Meeresvögel allerdings ließ Experten zunächst an ihrer Echtheit zweifeln, man war verblüfft, in einer prähistorischen Grotte in der Provence zehntausende Jahre alte Abbildungen von Meeresvögeln zu finden.
Die Grotte wird bald verschwinden
Nicht weniger Rätsel haben die schwarz oder manchmal auch rot umrandeten Handnegative den Forschern aufgegeben – sie entstanden, indem die prähistorischen Künstler eine Hand auf den Felsen legten und dann darauf Farbe aufbrachten. Unklar ist nach wie vor, zu welchem Zweck diese Abbildungen entstanden, möglicherweise könnte es Teil eines Initiationsritus gewesen sein. Doch was bedeutet es, dass man offenbar versucht hat, einige dieser Handnegative zu entfernen?
Die Zeit für die weitere Erforschung der Geheimnisse der „Grotte Cosquer" wird knapp, der Meeresspiegel steigt und irgendwann werden Tropfsteinformationen und Höhlenmalereien unwiederbringlich zerstört sein. Deshalb haben sich Behörden, spezialisierte Firmen, Wissenschaftler und Künstler 2016 für ein einmaliges Projekt zusammengetan: mithilfe neuester Techniken eine möglichst exakte Nachbildung der „Grotte Cosquer" zu schaffen. Natürlich mit Unterstützung ihres Entdeckers Henri Cosquer. Dafür ist die „Villa Méditerranée" in Marseille zu einem interaktiven Museum umgestaltet worden. Das spektakuläre Gebäude entstand 2013, als Frankreichs zweitgrößte Stadt Kulturhauptstadt war, und stand lange Zeit leer. Seit letzter Woche können Besucher in per Sensor gesteuerten Wagen, sogenannten „Modulen" durch die unterirdische Welt gleiten, die Malereien, Gravuren und Handnegative bestaunen, so wie es Henri Cosquer vor fast 40 Jahren gemacht hat. Und in einem weiteren Teil der Ausstellung wird die Frühgeschichte der Region erzählt, von den ersten Besiedelungen bis hin zu den Lebensbedingungen der Menschen und den Tieren, denen sie damals begegneten.