Der Vergleich mit Zar Peter I. sagt alles über Putins wahre Kriegsziele
Wer sich dieser Tage in Berlin oder Paris umhört, stößt immer wieder auf ein Zauberwort: Waffenstillstand. Die Regierungen in Deutschland und Frankreich ventilieren die Idee, dass ein Stopp des mörderischen Krieges in der Ukraine die Tür für Verhandlungen zwischen Kiew und Moskau öffne. Dann schlage die große Stunde von Bundeskanzler Olaf Scholz und dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, so das Narrativ. Scholz und Macron als ehrliche Makler und Friedensstifter – ein diplomatisches Wunschgemälde mit Goldrahmen. Vor allem in der SPD kursieren derlei Szenarien.
Auch der französische Staatschef träumt bereits heute von einem Ende des Krieges durch Verhandlungen „Wir müssen den Frieden vorbereiten. Eines Tages wird ein Waffenstillstand unterzeichnet werden. Es wird Garantiemächte geben – und wir gehören dazu", sagte er kürzlich in einem Interview. „Wir müssen an dem Dialog mit Russland festhalten, selbst wenn es sehr hart und manchmal ineffizient ist."
Der Franzose warnte zudem davor, Kremlchef Wladimir Putin zu „demütigen" – sprich: alle russischen Soldaten aus der Ukraine zu vertreiben. Er will ihm eine Brücke bauen, ihm zumindest einen territorialen Teilerfolg zubilligen.
Macrons Vision mag nach rationalem politischen Kalkül aussehen, aber sie ist naiv. Kremlchef Wladimir Putin hat kein Interesse an einer Kompromisslösung. Selbst eine Aufteilung der Ukraine – die Krim und der Donbass fallen an Russland, der Rest bleibt unter der Kontrolle von Kiew – wäre ihm zu wenig.
Putin selbst hat derlei Überlegungen bereits durchkreuzt. Er sieht sich auf einer historischen Mission, die nur ein Ziel kennt: den Aufbau eines russischen Imperiums. Dies wurde erneut deutlich, als er sich vor Kurzem mit Zar Peter dem Großen verglich. Peter I. hatte Schweden im Großen Nordischen Krieg (1700 bis 1721) bedeutende Gebiete in Finnland und im Baltikum entrissen und die Seeherrschaft im Ostseeraum errungen. Putin rechtfertigte dies im Nachhinein mit völkischen Argumenten: In den eroberten Landstrichen hätten neben finno-ugrischen Völkern auch „Slawen" gewohnt.
In der Imperatoren-Logik des Präsidenten handelt es sich nicht um eine aggressive Landeroberung. Peter der Große habe nur russisches Territorium „zurückgeholt und gestärkt", behauptet Putin. Und er zieht eine Parallele zur Zeit von vor 300 Jahren: „Allem Anschein nach fällt es auch uns heute zu, zurückzuholen und zu stärken." Mit diesem Bogenschlag erteilt sich der Kremlchef einen Freifahrtschein für die Einverleibung der gesamten Ukraine.
Die ideologischen Grundlagen hierfür hatte er bereits in einem Aufsatz beschrieben, der im Juli 2021 veröffentlicht wurde. Darin legt er dar, dass Russen und Ukrainer ein Volk, eine „geistige Einheit" seien – mit geschichtlichen, sprachlichen, kulturellen und religiösen Gemeinsamkeiten. Für Putin ist die Ukraine, die nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion 1991 ihre Unabhängigkeit erklärt hatte, ein „Anti-Russland". Die Maidan-Proteste 2014 seien vom Westen orchestriert worden, um Moskau zu schwächen, lautet sein Propaganda-Mantra. Der Essay unterstreicht: Der Präsident hat nicht akzeptiert, dass die Ukrainer eine eigene Nation mit einem unabhängigen Staat sind.
Damit ist klar, dass alle bisher von Putin gelieferten Rechtfertigungen für den Angriff auf die Ukraine vorgeschoben sind. Der Schutz gegen eine Bedrohung durch die Nato, die Beendigung eines angeblichen Völkermords im Donbass, das Zuvorkommen einer Attacke seitens der Ukraine, die „Entnazifizierung" und „Entmilitarisierung" des Nachbarstaates – alles nur politischer Theaterdonner. Es geht in Wirklichkeit um die Zerstörung der Ukraine als demokratisches und wirtschaftlich prosperierendes Land. Für Putin wäre dies ein Konkurrenzmodell, das bei der eigenen Bevölkerung Begehrlichkeiten wecken und damit den eigenen Machtanspruch gefährden könnte.
Wenn Bundeskanzler Olaf Scholz, Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und Italiens Regierungschef Mario Draghi noch vor Ende Juni – endlich – nach Kiew reisen, sollten sie sich dieser bitteren Wahrheit stellen. Diplomatische Traumtänzereien und Hoffnungen auf einen herbeiverhandelten Waffenstillstand führen nicht weiter. Der Ukraine hilft nur, was sie politisch und militärisch stärkt.