Timo Baumgartl spielte eine starke Saison – bis ihn eine Krebsdiagnose aus dem Spiel nahm. Union Berlin will den Innenverteidiger aber weiter verpflichten.
Eigentlich sollte es Bundesligaprofis egal sein, wie sie von Journalisten bewertet werden. Entscheidend ist doch, was der Trainer sagt. Oder? Ganz so einfach ist es nicht, die Beurteilungen in den Medien haben indirekten Einfluss auf den Marktwert, auf das Standing innerhalb des Teams – und auf die Befindlichkeiten des Spielers. Von Lothar Matthäus zum Beispiel ist überliefert, dass er in seiner Anfangszeit als Profi bei Borussia Mönchengladbach an jedem Wochenende zum Bahnhof gefahren ist, um sich dort die frühe Ausgabe der „Bild am Sonntag" zu kaufen. „Schließlich musste ich vorm Einschlafen wissen, welche Note ich bekommen hatte", hatte der Rekordnationalspieler einmal gesagt. Die Noten seien für ihn damals „das Maß aller Dinge" gewesen.
Auch heute noch lesen viele Profis ihre Spielnoten nach und reagieren mit Stolz, Verwunderung oder Verärgerung. „Man konnte oft an den Gesichtsausdrücken der Spieler erkennen, welche Note sie für das letzte Spiel bekommen hatten", berichtete der ehemalige Frankfurter Maurizio Gaudino einmal. In dem Fall gäbe es für Timo Baumgartl in seiner aktuell schweren Zeit immerhin einen Stimmungsaufheller. Er wurde in der aktuellen Rangliste des Fachmagazins „Kicker" in die Kategorie „Nationale Klasse" eingestuft – noch vor so namhaften Profis wie Lukas Klostermann und Martin Hinteregger.
Noten als „Maß aller Dinge"
Ein anderer Innenverteidiger von Union Berlin schaffte es nicht in diese Rangliste, die in der Szene viel Beachtung findet. Auch Abwehrchef Robin Knoche taucht dort nicht auf. Ein Blick in die Saisonnote gibt Aufschluss: Baumgartl (3,36) war laut „Kicker" der beste Abwehrspieler der Eisernen, einzig der im Winter zum VfL Wolfsburg gewechselte Max Kruse (2,97) und Super-Joker Sven Michel (3,33) kommen bei den Feldspielern auf eine bessere Durchschnittsnote. Keine Frage: Baumgartl hat eine starke Saison hingelegt – bis ihn ein Schicksalsschlag aus dem Spiel nahm.
Bei einer Vorsorgeuntersuchung wurde beim gebürtigen Stuttgarter ein Tumor im Hoden entdeckt. Ein Schock, doch die frühe Diagnose und die erfolgreiche Operation verhinderten Schlimmeres. „Glücklicherweise gehe ich seit einigen Jahren zur Vorsorge", sagte der 26-Jährige. Im Saisonfinale konnte er dennoch nicht mehr eingreifen, nur von außen fieberte er im am Ende erfolgreichen Kampf um die Europacup-Plätze mit. Beim letzten Heimspiel gegen den VfL Bochum grüßten ihn seine Teamkollegen mit einer besonderen Geste: Sie trugen beim Warmmachen alle ein rotes Shirt mit Baumgartls Nummer 25. Dazu twitterte der Club: „Eisern bleiben, Timo".
Ab und an meldet sich Baumgartl auf Instagram. „Kurzes Update: Bin noch da", schrieb er zum Beispiel Ende Mai neben ein Bild, das ihn im Krankenhausbett am Tropf liegend zeigt. Auf einem Video ist zu sehen, wie er gerade eine Glatze geschert bekommt. „Köpenicker Bruce Willis", kommentierte Baumgartl scherzhaft. Die Bilder und Videos legen nahe, dass er sich einer Chemotherapie unterzogen hat.
Baumgartl bedankte sich nicht nur bei seinen Ärzten und der Charité, sondern auch beim Verein für die „unglaubliche Unterstützung" in der schweren Zeit, „das werde ich nie vergessen", sagte er. Für Oliver Ruhnert ist das eine Selbstverständlichkeit. Der Club helfe dem Spieler mit seinem „ausgezeichneten Netzwerk von absoluten Spitzenmedizinern" und stehe ihm auch emotional beiseite. Man sei „zuversichtlich", ergänzte der Sportchef des Bundesligisten, „dass Timo wieder vollständig genesen wird".
Das Vertrauen ist so groß, dass Union den Verteidiger auch in der kommenden Spielzeit unbedingt in seinem Kader haben will. Der Verein war nach dem Saisonfinale sogar schon vorgeprescht. „Timo Baumgart bleibt Unioner", verkündete Union Mitte Mai auf seinem Twitterkanal – versehen mit einem roten und einem weißen Herzchen. Auch Ruhnert kündigte im Überschwang der Gefühle bei der Abschlussfeier mit den Fans einen Verbleib Baumgartls an. Einen Tag später ruderte er in einer Medienrunde etwas zurück. „Wir sind da in sehr guten Gesprächen", sagte Ruhnert: „Ich glaube, dass es uns gelingen wird."
Im Grunde spricht auch nicht viel gegen eine weitere Zusammenarbeit. Allerdings ist der ehemalige Junioren-Nationalspieler noch bis 2024 an die PSV Eindhoven gebunden, der niederländische Topclub müsste also einer erneuten Leihe oder einem Verkauf zustimmen. Dass PSV Baumgartl nach dessen schwerer Erkrankung unbedingt sofort wieder einen Kaderplatz freiräumen wird, galt als unwahrscheinlich. Mitte Juni berichtete die „Bild"-Zeitung, dass sich Eindhoven und Berlin dem Vernehmen nach geeinigt hätten und der Deal beim Trainingsstart am 20. Juni öffentlich verkündet werden soll.
Coach Fischer setzt auf Dreierkette
Vielleicht hätte Union ohne Baumgartls Erkrankung keine Chance auf eine Weiterverpflichtung gehabt. Der Marktwert des Verteidigers war nach der starken Saison mit 34 Pflichtspielen auf fünf Millionen hochgeschnellt – so viel Geld hat Union für einen Abwehrspieler noch nie ausgegeben. Durch die Hiobsbotschaft hat sich der Markt aber automatisch verkleinert, viele Mitinteressenten dürften das Risiko scheuen. Wann Baumgartl genau zurückkehrt, ist seriös nicht zu beantworten. Auch die Frage, ob er jemals wieder an alte Leistungsstärke wird anknüpfen können, ist legitim. Er selbst sagt: „Mein Fokus gilt jetzt der schnellstmöglichen Genesung." Auch wegen dieser Ungewissheit hat Union in Danilho Doekhi einen weiteren Innenverteidiger verpflichtet. Der 23-Jährige kommt vom niederländischen Erstligisten Vitesse Arnheim, den er zuletzt sogar als Kapitän geführt hatte. Doekhi habe gelernt, „Verantwortung zu übernehmen und im Mannschaftsgefüge eine Führungsrolle auszufüllen", sagte Ruhnert, der den 1,90-Meter-Mann aber auch aus anderen Gründen für einen „modernen Innenverteidiger" hält: „Er verfügt über eine starke Physis, ist aber gleichzeitig auch sehr agil."
Genau das ist in der Dreier-Abwehrkette von Trainer Urs Fischer gefragt, ebenso ein sauberer Spielaufbau. Auch hier soll Doekhi, der in der berühmten Nachwuchsakademie von Ajax Amsterdam ausgebildet wurde, seine Stärken haben. Die Integration dürfte ihm nicht besonders schwerfallen, schließlich findet sich mit Sheraldo Becker ein zweiter Profi im Kader, der die niederländisch-surinamische Staatsbürgerschaft besitzt. Der ehemalige U21-Nationalspieler hat genau beobachtet, wie Union mit einem klaren Plan zu einer Europacup-Mannschaft geworden ist. „Union ist eine riesige Chance für mich", sagte er: „Ich habe das Gefühl gewonnen, dass ich mich hier weiter verbessern kann."
Ähnlich äußerten sich auch die weiteren Neuzugänge: Jannik Haberer (zentrales Mittelfeld / vom SC Freiburg), Paul Seguin (zentrales Mittelfeld / SpVgg Greuther Fürth), Tim Skarke (Rechtsaußen / SV Darmstadt), Jamie Leweling (Stürmer / SpVgg Greuther Fürth). Ihnen wird Zeit zur Integration eingeräumt, keiner von ihnen muss zwingend sofort funktionieren. Das trifft auf Baumgartl noch viel mehr zu. Allein ihn wieder auf dem Rasen zu sehen, wäre schon ein großer Schritt.