Forschern ist es gelungen, einen Tumor dazu zu bringen, selbst Wirkstoffe zu seiner Zerstörung zu produzieren. Der genetische Bauplan für die Wirkstoffe wurde mittels modifizierter Atemwegsviren, ähnlich einem trojanischen Pferd, direkt in die Krebszellen transportiert.
Für Menschen schädliche Viren werden normalerweise mit allen medizinisch möglichen Mitteln bekämpft. Aber die Winzlinge können auch nützlich sein, wie es aktuell das Beispiel der Adenoviren nachdrücklich beweist, denn die Corona-Vektor-Impfstoffe von AstraZeneca, Johnson&Johnson oder Sputnik V basieren auf verschiedenen Varianten dieser Erkältungsviren. Bei diesen wurden zuvor die Gene zur Vermehrung entfernt, und sie können nun die Bauanleitung für das eine Immunreaktion auslösende Spike-Protein des Corona-Virus in die Zellen einschleusen.
Adenoviren, die typischerweise die Schleimhaut der oberen Atemwege befallen und beim Menschen meist nur eine banale Erkältung verursachen, gelten aber seit einigen Jahren auch als aussichtsreichste Kandidaten für die sogenannte Virotherapie. Diese wird auch als virale Onkolyse oder onkolythische Virotherapie bezeichnet. Dabei sollen gentechnisch manipulierte Adenoviren in die Tumorzellen eindringen, sich dort vermehren und im Idealfall das Karzinom selbst in eine Produktionsstätte von Anti-Tumor-Wirkstoffen verwandeln. Die Erbsubstanz der Adenoviren gilt als stabil und deshalb auch langfristig als unbedenklich. Gleichzeitig ist das Reproduktionspotenzial von Adenoviren enorm groß. Ein weiterer Pluspunkt ist, dass Adenoviren grundsätzlich ihre DNA nicht in das Erbmaterial der Wirtszelle integrieren. Besonders interessant macht Adenoviren aber, dass sich ihr Genom vollständig synthetisch ersetzen lässt. Darauf wies Prof. Andreas Plückthun vom Biochemischen Institut der Universität Zürich hin. Er konnte in jüngster Zeit mit seinem Team beeindruckende Forschungsergebnisse in der Entwicklung einer auf Adenoviren beruhenden Gentherapie gegen Krebs vorweisen. Man könne daher inzwischen das Genom so modifizieren, dass „nur noch ‚nützliche‘ Erbfaktoren" vorhanden seien, so Prof. Plückthun.
Den Tumor gegen sich selbst arbeiten lassen
Dennoch war der Einsatz von Adenoviren gegen Krebserkrankungen lange Zeit ziemlich eingeschränkt. Ihnen hatte einfach die Fähigkeit gefehlt, Krebszellen spezifisch anzusteuern und zu infizieren, was das Einschleusen der genetischen Baupläne für etwaige Wirkstoffe in kranken Zellen verhindert hat. „Zudem werden Adenoviren", so Prof. Plückthun, „vom Immunsystem effizient eliminiert und von der Leber sehr schnell aus der Blutbahn entfernt." Anfang 2018 war es Prof. Plückthun und seinen Kollegen dann aber gelungen, die Viren so umzubauen, dass sie Tumorzellen exakt erkennen und befallen konnten. „Dazu benutzten wir Moleküle, die als Adapter zwischen dem Virus und der Krebszelle funktionieren". Nur Viren, die mit diesen an ihrer Hülle anhaftenden Adaptern ausgestattet waren, konnten die Tumorzellen erfolgreich infizieren, nachdem sie an Oberflächenmolekülen der Tumorzellen angedockt hatten. „Getestet wurden verschiedene Adaptermoleküle für mehrere Rezeptoren wie HER2 und EGFR", so Prof. Plückthun. „Diese Proteine sind auf der Oberfläche von Wirbeltierzellen zu finden. Im Gegensatz zu normalen Zellen produzieren Krebszellen viel größere Mengen an HER2 und/oder EGFR. Dadurch unterscheiden sie sich von normalen Zellen und können von den Adaptern erkannt werden."
Um die Viren vor dem Angriff des Immunsystems zu schützen und auch die Leber zu überlisten, hatten die Forscher eine tarnende Proteinhülle entwickelt. „Dank Hülle und Adapter erkennen und befallen die viralen Genfähren in Laborexperimenten und Tierversuchen die Tumorzellen sehr effizient", so das Resümee der Studie im Magazin „Nature Communication". „Mit dieser Genfähre eröffnen sich vielversprechende Perspektiven", so Prof. Plückthun, „um aggressive Krebsarten zukünftig wirksamer behandeln zu können, da sich gleichzeitig eine ganze Reihe von Medikamenten direkt im Tumor produzieren lassen." Nicht zuletzt könnte damit die zunehmende Resistenz der Tumorzellen gegen Medikamente angegangen werden.
Mithilfe der getarnten Genfähre ist dem Schweizer Team 2021 ein weiterer Forschungsdurchbruch gelungen. Dafür wurden Adenoviren so umgebaut, dass sie zu einem für die Krebstherapie nutzbaren Transportvehikel werden konnten. Ähnlich wie ein trojanisches Pferd hatte sie den genetischen Bauplan für therapeutische Wirkstoffe im Gepäck, wodurch Krebszellen in Biofabriken umgebaut werden konnten, die die Produktion von therapeutischen Antikörpern gegen sich selbst in Angriff nehmen. „Wir bringen den Tumor dazu, sich selbst zu eliminieren, indem wir seine Zellen veranlassen, therapeutische Wirkstoffe zu produzieren", so die an der im Fachmagazin „PNAS" veröffentlichten Studie zentral mitbeteiligte Postdoktorantin Sheena N. Smith. Ein weiterer Vorteil des neuen Behandlungsansatzes gegenüber den bei den meisten Krebserkrankungen gängigen Chemotherapien ist zudem, dass nur Krebszellen angegriffen werden und nicht auch gesundes Gewebe attackiert wird. „Die Wirkstoffe wie therapeutische Antikörper oder Botenstoffe bleiben an exakt der Stelle im Körper, an der sie gebraucht werden", so Prof. Plückthun, „anstatt sich im Blutkreislauf zu verteilen, wo sie gesunde Organe und Gewebe schädigen können." Ihre neue Technologie, mit deren Hilfe Adenoviren, die keine viralen Gene mehr tragen, am Immunsystem vorbei an ganz bestimmte Stellen des Körpers gelotst werden können, haben die Schweizer Forscher auf den Namen „SHREAD" getauft, als Abkürzung für „Shielded Retargeted Adenovirus".
93 Prozent erreichten die Krebszellen
Bei ihrem Experiment stellten die Forscher die Wirksamkeit von SHREAD bei an Brustkrebs erkrankten Mäusen auf die Probe. Wobei sie eine Kontrollgruppe gebildet hatten, die das gegen die Erkrankung offiziell zugelassene Antikörperpräparat Trastuzumab, das unter dem Handelsnamen Herceptin von La Roche vertrieben wird, klassisch über die Blutbahn verabreicht bekam. Die anderen Tiere bekamen eine Injektion mit den präparierten Viren, die eine Bauanleitung für Trastuzumab enthielten. Mithilfe eines ausgeklügelten, hochauflösenden 3D-Bildgebungsverfahrens und dadurch transparent gemachtem Gewebe konnten die Forscher nach einigen Tagen bei der SHREAD-Gruppe feststellen, dass der in den Krebszellen produzierte therapeutische Antikörper Poren in den Tumor-Blutgefäßen erzeugt hatte, wodurch die Zellen zu schrumpfen begannen. Allerdings reichte der erhoffte Zerstörungseffekt nicht ganz an das Ergebnis der Kontrollgruppe mit der klassischen Trastuzumab-Behandlung heran. Dafür konnte mit SHREAD im Vergleich zur direkten Injektion eine größere Menge des klinischen Antikörpers im Tumor selbst gebildet werden. Erfreulich waren auch die niedrigen Konzentrationen des Antikörpers außerhalb der Krebszellen. „Wir erzielen eine 21-fach höhere Antikörperkonzentration im Tumor, gleichzeitig 89-fach niedrigere Werte im Blutplasma und 2,2-fach niedrigere in der Leber", so Sheena Smith. Auch die hohe Treffsicherheit fanden die Wissenschaftler überzeugend. Immerhin 93 Prozent der Viren erreichten die anvisierten Krebszellen.
Laut den Schweizer Wissenschaftlern lässt sich aus dem Experiment der Schluss ziehen, dass sich mit SHREAD wegen der Wirkstoff-Produktion in den Krebszellen künftig eine Therapie effektiver und gezielter möglich sein wird. Zudem sei es durchaus möglich, den SHREAD-Transporter auch mit Bauanleitungen für Wirkstoffe gegen andere Krebsarten zu bestücken. Sogar auf Proteinbasis beruhende Krebs-Medikamente, die noch für eine klassische Applikation viel zu stark und für gesunde Körperzellen toxisch sein können, beispielsweise eine breite Palette der sogenannten Biologika, könnten mithilfe von SHREAD zum Einsatz gebracht werden, weil sie dann ja nur in den Tumorzellen gebildet würden und mit gesunden Zellen kaum in Berührung kämen. Selbst im Kampf gegen Corona sehen die Forscher in SHREAD einen wirksamen Behandlungsansatz: „Indem die SHREAD-Behandlung den Patienten über ein inhalatives Aerosol verabreicht wird", so Sheena Smith, „könnte unser Ansatz eine gezielte Produktion von Covid-Antikörpertherapien in Lungenzellen zulassen. Also da, wo sie am dringendsten gebraucht wird. Damit ließen sich Kosten senken, die Zugänglichkeit von Covid-Therapien erhöhen und mit dem Inhalations-Ansatz auch die Verabreichung von Impfstoffen verbessern." Keineswegs eine ferne Zukunfts-Utopie, da die Wissenschaftler in einem vom Schweizer Nationalfonds finanzierten Projekt derzeit schon an einer konkreten Covid-19-Therapie tüfteln.