Brüchige Lieferketten, lange Wartezeiten: Auch die boomende Fahrradbranche leidet in der Krise. Immerhin: Der Handel hat für die Saison 2022 aus der Pandemie gelernt und gut vorgesorgt. Mit dem Wunschrad könnte es für manche Kunden dennoch nicht klappen.
Der Rahmen soll blau sein, in Größe M und dann doch bitte mit dem schicken geraden Lenker versehen, der auf der Hersteller-Website zu sehen ist. Ach ja, wenn es noch mit dem tollen Ledersattel und der robusten Plattformpedale wie abgebildet klappen könnte? Das wär’ toll! Das wär’ mein Wunschfahrrad!
Angesichts der anhaltenden Einschränkungen in der Lieferlogistik, die lange Wartezeiten bei Bestellungen nach sich zieht, könnte man sagen: Schön, dass man dieser Tage noch träumen kann. Denn das Wunschfahrrad ist derzeit oft eine reine Wunschvorstellung und im Handel so nicht zu bekommen.
Aber die Lage ist gar nicht so schlimm für Fahrradkunden, beschwichtigt der Handel – vorausgesetzt, sie bringen Flexibilität und Kompromissbereitschaft bei der Auswahl des Fahrradmodells und dessen Ausstattung mit. Denn Ware ist vorhanden. Das Lageraufkommen im Handel sei „stellenweise erheblich", sagt Uwe Wöll vom Verbund Service und Fahrrad (VSF) in Berlin. Anders sah das noch mit Blick auf die Saison 2021 aus, als pandemiebedingte Werksschließungen, massiv gestörte Lieferketten und Lieferschwierigkeiten für gravierende Probleme sorgten. Die Branche sah sich mit Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 sogar noch vor einem Abgrund.
Regelrechter Boom nach dem Lockdown
Doch die Industrie erlebte nach dem Lockdown einen Boom, der ohne die Krise wohl noch deutlicher ausgefallen wäre. 2020 wurde laut Zweirad-Industrie-Verband (ZIV) mit 5,04 Millionen verkauften Fahrrädern und Pedelecs ein „Rekordjahr", 2021 war der Absatz mit 4,7 Millionen Einheiten in Deutschland ebenfalls „deutlich über dem Vor-Corona-Niveau". Auch die „zwischendurch verbreitete Wahrnehmung, Fahrräder seien ausverkauft", habe ein noch besseres Abschneiden verhindert.
Das Fahrrad – nur eingebildet eine Mangelware? Natürlich nicht. Nach wie vor kämpft die Branche mit langen Lieferzeiten und schlechter Verfügbarkeit vor allem von Verschleißteilen wie Bremsen, Ketten oder Schaltungskomponenten. Hinzu kommen neue Unsicherheiten für die Fahrradwirtschaft infolge des Krieges in der Ukraine.
Doch während die Auswirkungen der geopolitischen Lage noch abzuwarten sind, hat die Branche aus der Pandemie gelernt. So hat der Handel aufgestockt wie selten zuvor. „Die Lieferanten produzieren was geht und liefern direkt aus", sagt Uwe Wöll. Laut Verband des Deutschen Zweiradhandels (VDZ) haben 80 bis 90 Prozent der Fahrradhändler mehr Räder auf Lager als vergangenes Jahr. Das sind gute Voraussetzungen, an ein passendes Fahrrad zu kommen – zumal sich die Nachfrage laut Wöll in der zweiten Jahreshälfte 2021 und Anfang 2022 etwas beruhigt hat.
Nur kann es eben mit der Wunschvorstellung unter Umständen nicht so ganz hinhauen. Und auch nicht mit den Katalogspezifikationen. Wie Modelle auf Hochglanzpapier oder Websites ausgestattet seien, so stünden sie in vielen Fällen nicht im Laden, sagt Thomas Geisler vom industrienahen Pressedienst-Fahrrad (PD-F) in Göttingen: Beim Komponenten-Marktführer Shimano seien manche Teile nicht erhältlich. Folglich finden sich im Geschäft an manchen Fahrradmodellen dann zum Beispiel Schalt- oder Bremsgruppen anderer Hersteller. Für hochwertige Sporträder seien teilweise Federgabeln kaum zu bekommen. Fehlt am Bike nur ein Teil, ist es erst einmal nicht verkaufbar.
Ungleichmäßige Warenverteilung
Wer sich ein Custom-Bike individuell aufbaue, könne immerhin gegebenenfalls auf Teile vom alten Rad zurückgreifen, um lange Lieferzeiten bei Kleinteilen zu verkürzen. Alle anderen müssen mit dem Vorlieb nehmen, was sie im Fahrradladen bekommen. Zumindest der Gang in den Fahrradladen ist für viele Kunden immer noch der übliche Weg. Zwar boomt der Onlinehandel, doch auch im vergangenen Jahr wurde wieder der überwiegende Teil der neuen Räder im stationären Fachhandel verkauft, nach ZIV-Angaben 73 Prozent gegenüber 20 Prozent über Internet-Versandhändler. Der Rest verteilt sich auf den Online-Fachhandel, SB-Warenhäuser, Baumärkte und Discounter.
Das größere Problem liegt woanders. Denn laut Uwe Wöll vom VSF war zwar „noch nie so viel Ware im Markt", wie aktuell. Doch die Verteilung sei ungleichmäßig und entspreche nicht immer dem Bedarf. „Dadurch gibt es für die Kunden nach wie vor Lücken in der Versorgung." Nicht selten kommt es vor, dass Kunden mit konkreten Modellwünschen in den Laden kommen, aber mit anderen Modellen zufriedengestellt werden müssen. Im Händlernetzwerk des VSF gibt es daher jüngst Bestrebungen unter den Mitgliedern, Räder gegenseitig verstärkt miteinander auszutauschen.
Um den persönlichen Vorstellungen beim Fahrradkauf möglichst nahe zu kommen, rät der Pressedienst-Fahrrad den Kunden, Fachhändler „in einem vernünftigen Umkreis um den eigenen Wohnort" abzutelefonieren. Mit etwas Glück finde man so ein Modell, das der Hersteller auf der eigenen Website zwar schon nicht mehr im Bestand und als „nicht lieferbar" markiert hat, sich aber noch in den Lagern des Fachhandels finde.
Um die Erfolgsaussichten stehe es umso besser, wenn man sich mit abweichender Ausstattung oder einer anderen als der Wunschfarbe zufriedengebe. So kann man mit etwas Glück mit einem passenden neuen Fahrrad vom Händlerhof nach Hause radeln, während die Lieferzeiten bei so manchem Wunschrad bei sechs bis zwölf Monaten liegen. Bei der Passform und dem Anwendungsbereich sollte man allerdings keine Kompromisse eingehen, heißt es beim PD-F.
Einer anderen Entwicklung sind Fahrradkunden indes fast machtlos ausgesetzt: den immer weiter kletternden Preisen. Laut ZIV lag der durchschnittliche Verkaufspreis der Fahrräder 2021 bei 1.395 Euro. Damit habe sich dieser Wert innerhalb eines Jahrzehnts fast verdreifacht – was sich zu einem guten Teil aber durch den stetig wachsenden Marktanteil der teureren Pedelecs erklärt. Doch auch während der Pandemie gab es teils saftige Preisaufschläge von nicht selten 25 Prozent bei einzelnen Modellen.
Das Vergleichsportal guenstiger.de ermittelte bei Pedelecs sogar noch krassere Anstiege: „Für das Jahr 2021 lagen die durchschnittlichen Angebotspreise (…) bei rund 3.680 Euro, was einem Preisanstieg von 42 Prozent gegenüber 2019 entspricht", heißt es in einer Mitteilung. Bei den Fahrrädern ohne Motor zeigt die Kurve nicht ganz so steil nach oben: Hier stiegen die Angebotspreise im gleichen Zeitraum um 15 Prozent auf durchschnittlich 610 Euro. Für Februar 2022 ermittelte das Portal allerdings bereits 660 Euro.
Und Linderung fürs geplagte Portemonnaie ist nicht in Sicht: Gestiegene Energiepreise werden laut Uwe Wöll wieder zu Preissteigerungen in allen Bereichen führen. Stahl, Rohstoff für Fahrradrahmen, ist nach wie vor globale Mangelware, preissteigernde Engpässe drohen laut PD-F auch bei Aluminium, zu dessen größten Produzenten Russland zählt, sowie im Speditionsgewerbe, das eine große Zahl ukrainischer Lkw-Fahrer einsetzt. Die Logistikkosten könnten auch deshalb steigen, weil die Luftfracht über Russland derzeit nicht mehr möglich ist und Umwege teuer sind.
Produktion wieder nach Europa holen
Für Fahrradfahrer sind die Zukunftsaussichten aber nicht nur düster. „Die Lage wird sich in der zweiten Jahreshälfte beruhigen, sofern die Auswirkungen des Krieges nicht zunehmen", schätzt Uwe Wöll. Arne Bischoff vom PD-F fügt hinzu: „Mittelfristig dürfte sich die Lage weiter entspannen, weil immer mehr Hersteller Teile der Produktion nach Europa holen und damit unabhängiger von globalen Lieferketten werden wollen."
Dieses „Reshoring", wie die Rückverlagerung von Produktionsstätten in der Ökonomie genannt wird, ist seit einigen Jahren bereits im Gange. Rahmen beziehen die Fahrradhersteller nicht mehr nur fast ausschließlich aus Fernost, sondern auch aus Portugal, Polen oder Ungarn, wo Rahmenproduktionsstätten aufgebaut wurden.
US-Hersteller Cannondale hat jüngst neue Montagewerke in den USA und den Niederlanden eröffnet. Zudem griffen viele namhafte Hersteller jetzt auf die Angebote der europäischen Zulieferer zurück, sagt PD-F-Sprecher Geisler. Kleine Firmen wie die Fahrradmarke Sour Bicycles aus Dresden verlegen im Projekt Home Brew derzeit die gesamte Mountainbike-Rahmenproduktion nach Deutschland. Coboc, Hersteller von E-Bikes aus Heidelberg, verhandelt unter anderem mit einem deutschen Automobilzulieferer über eine automatisierte Rahmenproduktion und hat die Fertigung einzelner Spritzgussteile aus Taiwan zurückgeholt.
Die größten Pläne schmiedet derzeit aber Pon Bike: Im Januar wurde bekannt, dass der niederländische Fahrrad-Gigant in Litauen eine Produktionsstätte bauen wird, in der ab 2024 bis zu 600.000 Fahrräder von Marken wie Focus, Gazelle, Kalkhoff oder Urban Arrow gefertigt werden könnten.
Bis die positiven Effekte des Reshorings im großen Stil greifen, dürfte es also noch ein bisschen dauern.