Der Angriffskrieg und die Sanktionen sind weitreichend und die Folgen noch nicht überschaubar. Für die globale Wirtschaft bedeutet das, nach der Pandemie „von der Krise in die Megakrise" zu schlittern, sagt Marc Bungenberg, Direktor des Europa-Instituts an der Uni Saarbrücken.
Herr Prof. Bungenberg, die EU hat bereits das sechste große Sanktionspaket gegen Russland beschlossen. Es wird viel diskutiert, ob das die gewünschten Wirkungen hat und überhaupt sinnvoll ist. Wie ordnen Sie die Maßnahmen ein?
Bei der Diskussion um die Sanktionen kommt vieles zu kurz. Erst einmal haben wir es bei diesen Sanktionen mit einem Vorgang zu tun, den wir in diesem Umfang in der Wirtschaftsgeschichte noch nie gehabt haben. Wir haben Sanktionen gegen Staaten, Weißrussland und Russland, aber auch gegen Einzelpersonen. Und wir haben Sanktionspakete, an die sich gleich noch Privatunternehmen drangehangen haben, indem sie sich vom russischen Markt zurückgezogen haben. Und dann noch die dritte Dimension, dass Sport- und Kulturverbände gesagt haben, dass sie mit russischen Verbänden nicht mehr zusammenarbeiten wollen. Das sind Pakete aus unterschiedlichen Richtungen, wie wir sie in der Vergangenheit nach meiner Beobachtung so noch nicht gehabt haben, und wo wir jetzt aber auch beobachten müssen, welche Folgen das hat. Das sind für uns häufig neue Problembereiche, bei denen wir an Grenzen kommen. Es geht um das Ökonomische, aber auch das Soziale als Folge der gesamten Sanktionspakete. Das wird uns noch viele Jahre beschäftigen.
Es stellen sich dabei immer wieder die Fragen: Trifft es die Richtigen, hat es die gewünschte Wirkung und welche Kollateralschäden müssen in Kauf genommen werden?
Sanktionen gibt es seit Hunderten von Jahren mit unterschiedlichen Auswirkungen. Während der Napoleonischen Kriege hat es Seeblockaden und Embargos gegeben. Im Ersten Weltkrieg haben wir bereits ganz umfassende Wirtschaftssanktionen gehabt, im Zweiten Weltkrieg natürlich auch. In den letzten Jahren, wenn es um Terrorismusfinanzierung ging, ist man auf andere, neue Sanktionspakete gekommen, weil man gesagt hat: Wir wollen nicht ein ganzes Land, sondern die Führungselite treffen, also gezielte Sanktionen. Bei früheren Sanktionen, die sich gegen ein ganzes Land gerichtet haben, hat es massive Kollateralschäden gegeben mit Hunderttausenden von Hungertoten. Das ist jetzt nicht das Ziel. Man versucht, die politische und wirtschaftliche Elite zu treffen, um Druck auszuüben, aber die Bevölkerung zu schonen.
Kann das gelingen?
Es kann nicht ganz gelingen. Aber man versucht nicht, die russische Bevölkerung auszuhungern. Man muss das Ganze auch global betrachten. China baut seit 15 Jahren massiv Infrastruktur auf, baut Transportwege auch nach Russland –
und bis nach Duisburg. Deshalb ist China so etwas wie Russlands großes Lager, und deshalb werden sich unter Umständen auch Anschlussfragen stellen, wenn die Sanktionen gegen Russland nicht oder nicht so schnell wirken. Und dann sind wir ganz schnell bei Fragen einer Neuordnung der Weltwirtschaft.
Sie haben die Breite der Sanktionen angesprochen. Ist es auch eine neue Dimension in der Tiefe der Sanktionen, der Abgestimmtheit auf europäischer und transatlantischer Ebene?
Ich meine, das ist eine neue Dimension in jeder Hinsicht. Ursprünglich sollten entsprechend der Nachkriegsordnung solche Maßnahmen vom UN-Sicherheitsrat ausgehen. Der ist aber lahmgelegt durch die Vetomöglichkeiten von Russland und China. Die Folge sind seit Jahren, eigentlich Jahrzehnten, unilaterale Maßnahmen, durch die Staaten ihre nationalen Sanktionen auf den Weg gebracht haben. Das Beeindruckende im Zusammenhang mit Russland ist, dass wir eine Einstimmigkeit für Sanktionen auf der Ebene der Europäischen Union haben. Das ist der Punkt, wo sich Russland wohl komplett verrechnet hat. Wenn man Einstimmigkeit unter 27 Staaten braucht, hat man wohl von russischer Seite aus damit gerechnet, dass man auf einige EU-Staaten wird einwirken können, dass nicht alle Staaten mitgehen und die erforderliche Einstimmigkeit nicht zustande kommt. An der Herstellung der Einstimmigkeit ist aber offenbar – und nicht erst seit dem 24. Februar – gearbeitet worden.
Enge Kooperation hat Putin überrascht
Hier hat die die EU-Kommission – anders als jedenfalls einige Mitgliedstaaten – vorausschauend und vom Schlimmsten ausgehend frühzeitig gehandelt, die Abstimmungsprozesse gut geleitet, und war dann auch bereit, die Sanktionen sofort umzusetzen. Es ist wohl so, dass an den Sanktionen bereits seit spätestens Mitte Dezember vergangenen Jahres gearbeitet worden und nichts nach außen gedrungen ist. Und man hat sich auch verrechnet, dass nämlich die Schweiz innerhalb weniger Stunden und Tagen bereit war, das nachzuvollziehen. Wir reden dabei zwar nur über ein kleines Land, aber die Schweiz ist Drehscheibe der weltweiten Rohstofflieferungen. Das ist ein starkes Signal: Die Europäische Union ist sofort in der Lage, zu handeln, die Schweiz macht mit, man stimmt sich eng ab mit dem Vereinigten Königreich, trennt es von anderen schwierigen Fragen, und man stimmt sich auch ab mit den Vereinigten Staaten. Diese enge und schnelle Koordination ist, glaube ich, für Putin überraschend gekommen.
Das Einstimmigkeitsprinzip galt zuletzt immer als das große Hemmnis der EU. Das hat sich auch bei der Diskussion um ein Öl-Embargo gezeigt. Am Ende stand trotzdem eine Lösung. Sehen wir da eine neue Stärke der EU?
Pragmatismus, neue Stärke – ja. Vielleicht auch die Erkenntnis, dass man zu einem gemeinsamen Auftreten auch ein Stück Flexibilität braucht. Ich sehe es als Stärke des gesamten Europarechts an, dass es durch Dynamik und Flexibilität gekennzeichnet ist, nicht durch Starre. Wenn man sich den gesamten Integrationsprozess seit 1952 anschaut, hat man es immer wieder geschafft, schnell zu reagieren. Ich sehe eine insgesamt positive Entwicklung seit 1951/52 dadurch, dass man ein Vertragswerk, eine rechtliche Grundlage hat, die flexibel ist, die sich immer wieder anpassen kann an neue Gegebenheiten. Das sehen wir jetzt auch. Die Kommission hat es geschafft, gut vorzuarbeiten. Und man sieht jetzt, dass man versucht, die Staaten mitzunehmen, zu reagieren, und nicht zu zwingen, die eigene Wirtschaft an die Wand zu fahren. Wenn sich jetzt abzeichnet, dass sich dieser Angriffskrieg hinzieht, dann müssen wir die Sanktionen so ausgestalten, dass die Staaten die Möglichkeit haben, sich hinsichtlich ihrer Energieversorgung neu zu strukturieren. Dass da in der Vergangenheit massive Fehler gemacht worden sind, steht komplett außer Frage.
Es ist davon auszugehen, dass die globale Ordnung nach diesem Krieg eine komplett andere sein wird. Gibt es eine Vorstellung davon, was sich da entwickeln könnte?
Es gibt unterschiedliche Lager. Die einen würde ich eher als die Realisten bezeichnen. Die gehen schon seit einigen Jahren davon aus, dass die Welthandelsorganisation, die WTO, an ihre Grenzen gekommen ist. Sie ist aber immer noch Basisordnung der Weltwirtschaft. Dass wir die Charta der Vereinten Nationen nicht infrage stellen, das steht aus meiner Sicht außer Frage. Selbst jetzt versucht Russland immer noch zu rechtfertigen und zu argumentieren, teilweise sogar auf der Grundlage des Rechtsrahmens der Vereinten Nationen. Unabhängig davon, dass Russland einen Angriffskrieg führt, der gegen die Grundprinzipien verstößt, wird irgendwo auch von russischer Seite immer noch auf die Charta geschaut. Das Recht der Welthandelsorganisation ist auf dem Stand von 1992. Diese Ordnung hat es zuletzt schon nur begrenzt geschafft, die Folgen von Digitalisierung, Klimawandel und die Rolle der Entwicklungsländer oder auch Chinas einzufangen.
„Wir brauchen ein weltweites Instrument"
Ich hoffe, dass die Welthandelsorganisation weiterhin die Grundlage der Weltwirtschaft darstellt, aber realpolitisch muss man sagen, dass allein schon durch die Neuausrichtung, allein was Energie und Rohstoffe angeht, die WTO noch stärker infrage gestellt werden wird. Russland und China werden neue Pipeline-Projekte bauen, wodurch es eine ganz neue Ausrichtung der Energiemärkte geben wird. In Deutschland und der Europäischen Union wird an der Energiewende gearbeitet, gleichzeitig sehen wir als Überbrückung, dass wir uns gut verstehen wollen mit den arabischen Ländern, parallel gibt es Tendenzen, die Kooperationen mit Nordamerika infrage stellen. Das ist für mich eine Inkohärenz, die ich dramatisch finde. Ich hoffe, dass diese Krise dazu führt, dass wir den latenten Anti-Amerikanismus in Deutschland überwinden. Meine Vision für die nächsten Jahre ist, dass wir uns wieder stärker an die transatlantische Brücke erinnern und ein nordatlantisches Wirtschafts- und Wertegeflecht unterstützen.
Heißt das, es gibt wieder eine schärfere Trennung von Blöcken in einer globalen Ordnung?
Unter Umständen schon. Verstehen Sie mich nicht falsch, das ist nicht das, was ich mir wünsche. Wir müssen sehen, dass es in einigen Weltregionen einen viel stärkeren Einfluss des Staates auf die Wirtschaft gibt, insbesondere in Autokratien und Diktaturen. In Europa haben wir vor allem eine nachhaltige, also nicht nur eine soziale Marktwirtschaft als Ziel. In Nordamerika ist es ähnlich, wenn auch in einigen Bereichen anders ausgeprägt. Da verfolgen natürlich Russland und China eine ganz andere Ausrichtung. Ob das langfristig so gut zusammenpasst im Rahmen der WTO, wenn man es nicht schafft, deutlich im rechtlichen Rahmen nachzusteuern, da habe ich meine Zweifel.
Vor dem Krieg in der Ukraine gab es schon die Erfahrungen der Pandemie, in der wir Probleme in den globalen Handels- und Lieferketten gesehen haben, die deutlich gemacht haben, dass einiges nicht in Ordnung ist.
Von der Krise in die Megakrise. Das Weltwirtschaftssystem ist, wenn man die Volumina betrachtet, schon abgestürzt. Wir waren in der Krise, und anstatt dass sich in diesem Sommer ein kleines Zwischenhoch abzeichnet, gibt es gegenteilige Erfahrungen. Die Belastungen für die Wirtschaft sind fundamental. Von Corona zur Ukraine: Das ist auch eher eine mentale Frage. Und was weiter damit zusammenhängt, ist auch die neue Verantwortung, in der sich viele Staaten sehen, wenn es darum geht, Lieferketten neu zu organisieren und dabei ökologische und soziale Kriterien mit einfließen zu lassen. Das ist eine Diskussion, die wir parallel haben. Und auch da spielt mit den anderen Bereichen zusammen, dass wir uns überlegen müssen, was wir mit der Europäischen Union wollen, für welche Werte wir stehen, und wo wir unter welchen Umständen einkaufen gehen wollen. Dass die Wirtschaft, die die schlechteren menschenrechtlichen Bedingungen und Umweltschutzstandards in Drittstaaten ausgenutzt hat, dagegen Sturm läuft, liegt auf der Hand.
Welche Rolle spielen dabei andere Regionen, die bei uns nicht ständig im Blick sind, etwa Indien, Südamerika, Afrika?
Es geht um die Frage, welche Partnerschaften die EU in den nächsten Jahren festigen kann. Das EU-Mercosur-Abkommen steht stark in der Kritik und wird wahrscheinlich nicht ratifiziert werden, weil es da immer wieder um die Abholzung des Amazonas-Regenwaldes geht. Da stellt sich immer wieder die Frage, ob man Abkommen mit ganzen Regionen oder besser mit einzelnen Staaten abschließt. Mit Argentinien hätte man etwa die Regenwaldproblematik nicht. Die Europäische Union wird noch stärker versuchen, mit internationalen Abkommen Einfluss zu nehmen.
Nötig wäre eine reformierte WTO
Die Diskussionen mit Indien werden in den nächsten Jahren an Fahrt aufnehmen, da redet man schon seit Jahren – mit langen Pausen – immer wieder über ein Freihandelsabkommen. Es gibt seit Jahrzehnten die Afrika-Politik der Europäischen Union und Deutschlands. Man schaut verstärkt im Wettbewerb mit China, wer wo welchen Einfluss nehmen kann. Es ist ein Wettbewerb um den Zugang zu Rohstoffen und Märkten auf dem afrikanischen und südamerikanischen Kontinent.
Sie haben vorhin eine engere transatlantische Verbindung angesprochen. Wie eigenständig kann Europa in diesem globalen Wettbewerb unterwegs sein?
Um die Märkte in Afrika und Südamerika gibt es einen Wettbewerb zwischen den USA und der Europäischen Union, und der wird weiter bestehen. Die Gemeinsamkeiten gibt es gegenüber China und zukünftig Russland, wenn es etwa um die Frage geht, welche Investitionen und damit Einflüsse wir in westlichen Staaten zulassen. Es geht dabei um einen gewissen Gleichklang, nicht darum, dass wir absolut marktmächtig in einem großen transatlantischen Wirtschaftsverband auftreten. Es geht also um gemeinsame Ideen in der Außenwirtschaftspolitik, nicht um ein Staatenkartell.
Was kommt dann nach der WTO?
Ich habe nicht gesagt, dass die WTO kollabiert. Ich hoffe, dass es sie weiter gibt, aber sie muss sich reformieren. Das ist wiederum nicht die Aufgabe der WTO, da müssen die Staaten die Notwendigkeiten erkennen und Impulse geben. Wenn Staaten die WTO kleinhalten, ihr ein Minimalstbudget geben – die WTO hat gerade mal 600 Mitarbeiter – muss man sich überlegen, was man da eigentlich in Genf will. Will man eine moderne Organisation, die den Welthandel koordiniert und als Streitschlichtungsmechanismus zur Verfügung steht? Meine Idee wäre eine modernisierte, reformierte WTO. Wir brauchen weiterhin ein weltweites Instrument. Damit haben wir seit 1947 eigentlich sehr gute Erfahrungen gemacht. Aber ich habe schon die Befürchtung, dass die WTO angesichts der aktuellen Entwicklungen und neuen Blockbildungen dafür nicht die notwendigen Instrumentarien beziehungsweise Regularien hat.