Macron angeschlagen, Biden im Umfragetief: Europa braucht neue Stärke
Zwischen Schein und Sein klafft häufig eine Lücke – vor allem in Zeiten des Umbruchs. Wenn sich die Staats- und Regierungschefs der sieben größten westlichen Industrieländer am Wochenende im bayerischen Elmau zum G7-Gipfel treffen, wird große Harmonie und Eintracht demonstriert. Kritik am russischen Angriffskrieg, finanzielle, politische und militärische Unterstützung für die Ukraine, gemeinsamer Kampf gegen den Klimawandel: Der Westen bietet den großen Schulterschluss, lautet die Botschaft.
So beeindruckend die politische Front auf den ersten Blick aussieht, sie ist nicht sturm- und wetterfest. Die zweite Runde der französischen Parlamentswahlen am Wochenende hat gezeigt, dass Demokratie und politische Stabilität keineswegs in Stein gemeißelt sind. Präsident Emmanuel Macron verfügt in der Nationalversammlung über keine absolute Mehrheit mehr. Fünf Jahre nach seinem strahlenden Wahlsieg ist der ehemalige Jung-Star angeschlagen wie nie. Er muss nun in mühsamer Kleinarbeit in der Opposition um Zustimmung für Gesetzesvorhaben werben – für den Überflieger von einst ein fast demütigender politischer Akt. Im Grunde tickt bereits heute die Uhr. Die Nach-Macron-Ära hat schon begonnen, da der Präsident laut Verfassung in fünf Jahren nicht mehr antreten darf.
Im Gegensatz zu 2017 hat der französische Staatschef in diesen Tagen keine schwungvolle Europa-Vision mehr zu bieten. Sein innenpolitisches Parade-Projekt, eine Renten-Reform mit einer Erhöhung des Eintrittsalters in den Ruhestand von 62 auf 65 Jahre, dürfte im Grabenkampf der Parteien zerpflückt werden.
Aus Frankreich kommen Alarmzeichen, die mittelfristig nicht für Deutschland, Europa und den Westen insgesamt gefährlich sind. Die Wahlbeteiligung von nur 46 Prozent am vergangenen Sonntag zeugt von einer Erosion demokratischer Willensbildung. Eine Mehrheit der Menschen fühlt sich durch die Institutionen nicht mehr repräsentiert.
Besorgniserregend auch: Die Linksextremen um den Volkstribun Jean-Luc Mélenchon und die Rechtsextremen um Marine Le Pen haben zusammen fast genauso viele Sitze wie Macrons liberales Bündnis Ensemble. Sie sind EU-skeptisch und deutschlandkritisch eingestellt. Sie wollen den Einfluss Brüssels mit antikapitalistischer beziehungsweise nationalistischer Grundierung stark beschneiden. Und sie hofieren den russischen Präsidenten Wladimir Putin trotz dessen Ukraine-Invasion. Legen die Populisten an den Rändern zu wie in den letzten Jahren, werden sie kumuliert zur stärksten politischen Kraft – zumindest als Anti-System-Größe. Es wäre nicht nur ein später Triumph des Kreml-Chefs, sondern das Ende der EU, der deutsch-französischen Freundschaft und des Westens.
Auch die Partnerschaft zwischen Europa und den Vereinigten Staaten ist keineswegs garantiert. In Brüssel, Paris oder Berlin freut man sich derzeit noch über das neue transatlantische Hoch unter US-Präsident Joe Biden. Doch die amerikanische Gesellschaft ist gespalten wie nie zuvor, wie sich etwa an dem erbitterten Streit über die Verschärfung der Waffengesetze nach jedem Horror-Amoklauf ablesen lässt. Bidens Zustimmungswerte sind im Keller, der Geist des Trumpismus ist keineswegs tot.
Bleibt die Inflationsrate in den USA bei Rekordhöhen von knapp neun Prozent und werden die Energiepreise nicht gedämpft, droht Bidens Demokraten bei den Zwischenwahlen zum Kongress im November ein Waterloo. Es könnte der Beginn einer langen politischen Agonie des Präsidenten sein. Mit der Aussicht, dass Anfang 2025 wieder Donald Trump oder ein Trumpist im Weißen Haus sitzt. Einher ginge dies mit neo-isolationistischen Reflexen, einem Rückzug Amerikas aus globalen Engagements und neuen Zweifeln an der Nato. Auch das wäre –
wie ein Sieg der Populisten in Frankreich – das Ende des Westens, wie wir ihn kennen.
Die Entwicklungen in Frankreich und in den Vereinigten Staaten sind Weckrufe für Europa. Der Kontinent muss politisch, wirtschaftlich und militärisch zu einer neuen Kraft werden. Nicht nur Deutschland, auch die EU braucht eine „Zeitenwende". In einer Ära der Multi-Krisen Covid, Ukraine-Krieg, Energiepreis-Auftrieb kommt es zudem auf eine Politik der sozialen Balance und auf kluge politische Kommunikation an. Vor allem an den beiden letzten Punkten hat es Macron gefehlt.