Kein Spieler wird so unterschiedlich gesehen wie Toni Kroos. Dabei sollte es an seiner Klasse gar keinen Zweifel geben. Seit acht Jahren diktiert er das Spiel von Real Madrid und passt den Ball besser als niemand sonst.
Es sind die Momente, die nicht sonderlich spektakulär aussehen, aber dennoch zeigen, wie gut und wichtig Toni Kroos für Real Madrid ist. Es lief schon die Nachspielzeit in Paris, als Real einen echten Toni-Kroos-Moment brauchte und ihn auch bekam. Liverpool, das überlegene Team in einem spannenden Champions-League-Finale, setzte die „Königlichen" auf der linken Seite mächtig unter Druck. „Bloß nicht den Ball verlieren und noch den Ausgleich kassieren", stand in den Gesichtern des Star-Ensembles geschrieben.
Weder Angst noch Nervosität
Kroos’ Gesicht verriet nichts über den Druck, der auf dem Rasen des Stade de France herrschte. Der Weltmeister forderte umringt von Liverpoolern den Ball, verarbeitete ihn in höchster Bedrängnis, zog ein Foul auf sich und nahm seinen Teamkollegen damit Druck – und Zeit von der Uhr. Wenig später durften die „Königlichen" den Henkelpott in den Himmel heben.
Es scheint so, als wäre Kroos nicht in der Lage Angst oder Nervosität zu fühlen, wenn er auf dem Platz steht. Kroos scheint oft wie ein eiskalter Anführer auf dem Spielfeld. Wobei diese Art zu spielen auch verstanden werden muss. Alles andere als eiskalt war der 32-Jährige im Interview danach. Gerade noch der Familie zugewunken, die zum ersten Mal vollzählig im Stadion dabei war, standen dem Familienmensch im Gewand einer Passmaschine die Tränen in den Augen. Doch der Interviewer verpasste die Chance, emotional den großen Bogen beim erfolgreichsten deutschen Fußballer aller Zeiten zu schlagen, während Kroos selbst wenig Gelassenheit walten ließ und keine gute Figur bei dem abgebrochenen Gespräch machte. Es wird trotzdem nur eine Randnotiz in seiner Weltkarriere bleiben. Geboren in Greifswald, aufgewachsen und gereift in Rostock, mit 16 Jahren zum großen FC Bayern München gewechselt, dort nie richtig glücklich geworden, aber nach dem WM-Sieg von Rio bei Real Madrid seinen Platz im Fußball-Olymp gefunden.
Schon mit 16 Jahren zu den Bayern
Schon in jungen Jahren waren die Elogen auf den Blondschopf aus Mecklenburg groß. Das passiert oft bei König Fußball, wenn das Talent so außergewöhnlich ist. Seltener ist, wenn der Hochgelobte dann auch liefert und aus dem Versprechen Gewissheit wird. Kroos hat geliefert und ist zum Weltstar geworden: 28 Titel insgesamt, jeweils drei Meisterschaften in Deutschland und Spanien, Weltmeister 2014 und nun der fünfte Champions-League-Titel – nicht in der Nebenrolle, sondern immer als einer der Hauptdarsteller.
Das Wichtigste dabei: seine Pässe. In Deutschland oft als „Querpass-Toni" verkannt, legt der Stratege Zahlen auf, die kein anderer Spieler auf der Welt vorweisen kann. In 439 Partien hat er davon insgesamt 30.214 gespielt, seit er das weiße Trikot der „Königlichen" 2014 zum ersten Mal überstreifte. Angekommen sind davon 28.210, also unglaubliche 93,37 Prozent.
Die GSN-Datenbank weist den Rechtsfuß damit als die effektivste Passmaschine Europas aus. Andrés Iniesta, Thiago und selbst der Mittelfeldstratege schlechthin, Sergio Busquets, können da nicht mithalten. „Toni Kroos ist ein wunderbarer Spieler. Der Junge macht alles richtig. Seine Pässe sind präzise, und er sieht alles. Toni ist nahe an der Perfektion", hat Hollands Fußballgenie Johan Cruyff einmal über Reals Nummer acht gesagt. Die Wertschätzung für den Mittelfeldstrategen scheint im Ausland deutlich größer zu sein als in Deutschland. „Querpass-Toni" würde Kroos in Spanien jedenfalls niemand nennen. Dabei ist nicht von der Hand zu weisen, dass er viel quer spielt, gut 50 Prozent seiner Pässe pro Partie. Gleichwohl visieren 20 Prozent von seinen Pässen das letzte Drittel an und finden in gut 90 Prozent der Fälle auch ihr Ziel. Und das nicht nur über kurze Distanzen. Hohe, lange Bälle, über 40 oder 50 Meter direkt in den Fuß eines Mitspielers kann keiner so gut wie Kroos. Am vorletzten Liga-Spieltag gegen Cadiz brachte der Greifswalder alle seine 17 langen Pässe an den Mann.
So viele „perfekte" Distanzbälle hatte es in einem Spiel der Primera División zuletzt im November 2019 gegeben – ebenfalls durch Kroos. Macht der Weltspielmacher des Jahres 2014 das Spiel nun also langsam, wie es ihm immer wieder vorgeworfen wird? In der Fußball-Datenwelt ist der „BST"-Wert (Ball Speed Transmission) ein Indikator dafür, wie schnell ein Spieler das Spiel macht. Dabei werden die angekommenen Pässe durch die Anzahl aller Aktionen geteilt. Umso näher der Wert an 1, desto schneller macht der Spieler das Spiel mit seinen Aktionen. Der Wert von Kroos in den vergangenen acht Spielzeiten liegt hier im Schnitt bei 0,71. Iniesta (0,58), Thiago (0,63) oder eben Busquets (0,64)? Keiner kommt an Kroos heran.
„Besser in Deutschland umstritten und weltweite Anerkennung als andersrum", hat der Weltmeister gesagt, als er 2021 nach 107 Spielen und 17 Toren aus der deutschen Nationalmannschaft zurücktrat. Er habe das Gefühl, „dass einige mein Spiel in elf Jahren Nationalmannschaft nicht ganz verstanden haben. In Spanien war das dagegen bereits nach meiner ersten Partie für Real Madrid der Fall."
Toni Kroos, der Unverstandene? Während in Deutschland Führungsstärke im Fußball immer noch gern über markige Sprüche und Aggressivität auf dem Platz definiert wird, hat das Publikum in Madrid einen anderen Blick aufs Spiel. Und das hat die Passmaschine aus Greifswald bei den „Königlichen" geprägt wie kaum ein Zweiter.
Und auch neben dem Platz ist Kroos ein Typ, wie das bereits angesprochene Interview zeigt. Doch auch das wurde in Deutschland nicht gut aufgenommen. Dünnhäutig und unprofessionell wurde Kroos genannt – dabei wird klar, dass er mit seinem Spruch, zu wissen, dass der Interviewer bei diesen Fragen aus Deutschland kommen müsse, doch irgendwie recht hatte. Durchaus amüsant: So groß die Emotionalität in der Bewertung von Kroos ist, so kühl gibt sich der gebürtige Greifswalder als Profi, so abgezockt ist sein Spiel.
Kritik an der Art des Spiels
Kroos hat dabei die gleichen Probleme in der öffentlichen Wahrnehmung Deutschlands wie sein Kollege Mesut Özil. Wobei sich dessen Bewertung ja allzu oft mit dem Fremdeln vor seinen türkischen Wurzeln vermischte. Der legendäre Cristiano Ronaldo konnte noch so häufig wiederholen, dass er kaum einen Mitspieler je mehr schätzte als Özil. In seiner deutschen Heimat verfing sich das nicht. Und wird es nicht mehr tun. Zu vergiftet ist die Atmosphäre um den Spielmacher wegen seiner Nähe zum international kritisch betrachteten türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seiner Abrechnung mit dem DFB. Zu kaputt seine Karriere, die nach seinem Rauswurf bei Fenerbahce vielleicht schon beendet ist. Bei Kroos geht es bei der ganzen Kritik aber weniger um den Menschen, sondern viel mehr um die Art des Spiels, die in Deutschland niemand zu verstehen scheint. Weder Club-Ikone Zinédine Zidane noch der unsterbliche Carlo Ancelotti und erst recht nicht der ewige Bundestrainer Joachim Löw hegten je den Hauch eines öffentlichen Zweifels, dass der Spielgestalter nicht mehr den Anforderungen des modernen Fußballs genügt. Die souveräne Meisterschaft in der spanischen Liga und der Triumph in der Königsklasse sind statistisch nicht anzweifelbare Belege. Kroos ist unumstrittener Stammspieler.
Doch es gibt auch das Team „Uli Hoeneß". Das Team also, das in dem 32-Jährigen seit Jahren nur noch einen nervtötenden Querpass-Spieler sieht, einen Mitläufer. Hoeneß, dessen Sätze in der Fußballrepublik Deutschland mehr Gehör haben als alles andere was gesprochen wird, sagte vergangenes Jahr, nach der nicht erfolgreichen Europameisterschaft: „Ich mag den Toni extrem. Aber seine Art zu spielen ist total vorbei. Bei der ganzen EM habe ich keinen Spieler gesehen, der so einen Fußball spielt."
Ein vernichtender Abgesang in schönem Kleid. Doch mehr als Parolen waren das nicht. Derjenige, dessen Zeit laut Hoeneß vorbei war, hat gerade als Stammspieler seinen fünften CL-Titel geholt. Kroos muss niemandem in Deutschland etwas beweisen – diejenigen, die sein Spiel verstehen, würdigen ihn genug.