Die Linke wollte sich auf ihrem Bundesparteitag in Erfurt neu aufstellen. Janine Wissler bleibt Parteivorsitzende, Martin Schirdewan ist neuer Co-Chef. Die Partei bleibt auf der Suche nach sich selbst.
Gregor Gysi stellt seiner Partei durchweg schlechte Noten aus. „Es geht nicht um Gender-Sternchen, sondern die soziale Frage wird sich in den kommenden Monaten in Deutschland völlig neu stellen und wir haben keine Antworten", poltert Gysi gegenüber FORUM. Der ehemalige Partei- und Fraktionschef im Bundestag spielt damit auf Inflation und Kosten der Energiewende an, die in den kommenden Monaten auf die Menschen zukommen werden. „Wir brauchen eine sozial verträgliche Energiewende, doch das ist überhaupt nicht Thema bei der Linken, wir beschäftigen uns lieber mit uns selbst." Gender-Sternchen versus soziale Gerechtigkeit –
von der Linken-Jugend bekommt er dafür reichlich verbale Prügel.
Gregor Gysi ist derzeit der außenpolitische Sprecher der Bundestagsfraktion und hat offenbar auf seine Partei keine wirkliche Lust mehr. Beim vergangenen Bundesparteitag in Erfurt ließ er sich nicht mal zwei Stunden lang blicken. Gysi rauscht rein, hält seine Rede, steht dann beim Abgang noch kurz für Selfies zur Verfügung und dann ist er auch schon wieder weg. „Der hat fertig mit unserer Partei", entfährt es einer Kollegin, die in dieser Hektik kein Selfie mit Gysi zustande gebracht hat. Bei der Nachfrage, ob die neue, alte Parteiführung nun die Wende schaffe, zuckt die gut 60-Jährige nur mit den Schultern.
40 Prozent waren gegen Parteivorsitz
Die mehr als umstrittene Janine Wissler wurde mit 57,5 Prozent zur Parteivorsitzenden wiedergewählt. Die 41-Jährige aus Langen in Hessen gilt als Parteilinke und wird unter anderem mitverantwortlich für die parteiinterne Debatte um sexistische Übergriffe innerhalb der eigenen Reihen gemacht. Ihr ehemaliger Lebenspartner soll ein Verhältnis mit einer 24 Jahre jüngeren Mitarbeiterin der hessischen Landtagsfraktion der Linken gehabt haben. Wissler war von 2009 bis 2019 Fraktionschefin. Der Vorwurf gegen Wissler: Sie habe von diesem Verhältnis ihres damaligen Lebenspartners gewusst und geschwiegen. Wissler entgegnet den Vorwürfen, sie habe davon erst durch die Betreffende selbst erfahren und dann ihre persönlichen Konsequenzen gezogen. Als die Vorwürfe über Ostern dieses Jahres öffentlich wurden, zog die damalige Co-Vorsitzende der Linkspartei, Susanne Hennig-Wellsow, ihrerseits Konsequenzen und trat von allen Ämtern zurück. Janine Wissler aber, von dem Rücktritt überrascht, blieb im Amt der Bundesvorsitzenden. Sie entschied sich für den Kampf um die politische Bedeutung und hat diesen parteiintern mit ihrer Wiederwahl auch gewonnen –
wenn auch knapp mit 58 Prozent der Stimmen. Ihrem Machtanspruch innerhalb der Partei kommt zugute, dass ihr neuer Co-Vorsitzender nicht in der Bundestagsfraktion und auch nicht in der Bundespartei präsent ist. Martin Schirdewan ist Mitglied des Europaparlaments und dort stellvertretender Fraktionschef des Linksbündnisses. Da bleibt wenig Zeit, sich auch noch um seine Partei in Auflösung zu kümmern. Der Ost-Berliner gilt als Pragmatiker innerhalb der Linken. Als ein Genosse also, der auf Anforderungen entsprechend der Tagesaktualität reagieren und auch mal Positionen abrupt verändern kann.
Schirdewan gegenüber FORUM: „Meine Aufgabe in der Parteiführung sind die Brot- und Butter-Themen der Menschen. Es geht jetzt um einen Energiepreisdeckel und eine Übergewinnsteuer vor allem für die Energieerzeuger. Es kann nicht sein, dass Millionen Menschen in den kommenden Monaten im Kalten sitzen, weil sie die Kosten nicht mehr bezahlen können." Doch Schirdewan sitzt in Brüssel weit weg vom politischen Tagesgeschäft seiner Partei in Berlin. Und da werden bereits parteiintern die Messer gewetzt. Denn die beiden Vorsitzenden haben bei ihrer Wahl beziehungsweise Wiederwahl nicht einmal die Stimmen von zwei Dritteln der Delegierten bekommen. Umgekehrt heißt das, 40 Prozent der Delegierten sind mit der neuen Führung nicht einverstanden, sie sehen keinen Aufbruch. Parteimitbegründer Gregor Gysi kann ihnen nicht mehr bringen, er ist nur noch ein Mahner. Die populäre Hoffnungsträgerin und Umfragen-Königin der Partei Sarah Wagenknecht ist erst gar nicht zum Parteitag in Erfurt erschienen. Offiziell hieß es, aus Krankheitsgründen. Doch offensichtlich hat auch sie längst abgeschlossen mit ihrer Partei. Im Nachgang ist ihre Bilanz bitter: „Nach diesem Parteitag gibt es kaum Hoffnung, dass die Linke ihren Niedergang stoppen kann", ließ Wagenknecht über die Deutsche Presseagentur verlauten. Damit spielt die streitbare ehemalige Fraktionschefin im Bundestag auf den Umstand an, dass sich die Linke auf ihrem dreitägigen Konvent lieber mit Satzungsstatuten und Änderungsanträgen beschäftigt, als sich inhaltlich um drängende Fragen der Menschen zu kümmern. Zum Beispiel: Wie kann das Leben in Zeiten explodierender Energiepreise bezahlbar bleiben?
Es könnte zu Austritten kommen
Darum will Wagenknecht nun im Herbst eine Netzwerk-Konferenz „Wie weiter" initiieren. Dort sollen die tatsächlich bestimmenden Themen der Gesellschaft diskutiert werden. Ob sie dies allerdings noch als Parteimitglied der Linken machen wird, lässt Wagenknecht offen.
Eine Austritts-Option, die auch Sören Pellmann für sich nicht ausschließen möchte. Der 45-Jährige holte im Leipziger Wahlkreis II zum zweiten Mal in Folge das Direktmandat bei der Bundestagswahl und sicherte damit der Linken den Fraktionsstatus im Bundestag. Doch dieser erneute Direktsieg bei der letzten Bundestagswahl reichte nicht für seine Wahl zum Co-Vorsitzenden der Linkspartei. Pellmann ist enttäuscht von seinen Genossen, Dankbarkeit sieht anders aus. Jetzt überlegt auch er, ob das überhaupt noch seine Partei ist. „Ich denke über alle Möglichkeiten nach, was dieses Parteitagsergebnis für meine politische Zukunft bedeutet", so Pellmann gegenüber FORUM. Austritt aus Partei und Bundestagsfraktion nicht ausgeschlossen.
Sollte es zu so einem prominenten Austritt kommen, muss sich die Linkspartei über ihren Fraktionsstatus im Bundestag keine Sorgen machen. Tritt Pellmann aus, wäre dies keine Gefahr. Für den Verbleib als Fraktion im Bundestag ist das Ergebnis am Wahltag entscheidend, und Pellmann war der Dritte im Bunde der Direktkandidaten, wonach die Linke eine Fraktion bilden konnte. Doch das wird der Partei inhaltlich nicht viel nützen, denn die Zustimmung erodiert nicht nur im alten Westen der Republik. Auch im Osten, dem Kerngebiet ihrer Wählerschaft, nimmt die Zustimmung rapide ab, eine existenzielle Gefahr für den Fortbestand der Partei.