Der globale Meeresspiegel-Anstieg ist mit dem Auge nicht zu erfassen. Prof. Dr. Ing. Martin Horwath vom Institut für Planetare Geodäsie der TU Dresden und sein Team haben ihn gemessen. Er weiß, was seine Kipppunkte für uns bedeuten.
Herr Horwath, was ist Geodäsie?
In der Geodäsie geht es um die Vermessung der Erdoberfläche. Heute im Satellitenzeitalter messen wir millimetergenau tektonische Plattenbewegungen oder eben die Änderung des Meeresspiegels. Dazu kommt noch, dass Geodäten die Feinheiten der Erdanziehungskraft vermessen. Und wir bestimmen die Orientierung der Erde im Weltall, also die Erdrotation und die kleinen Schwankungen der Ausrichtung der Rotationsachse. Denn auch diese geben uns Auskunft über Prozesse, die sich in der Erde oder auf der Erdoberfläche abspielen.
Was machen Sie auf Ihren Expeditionen nach Grönland und in die Antarktis?
Wir tragen mit unseren Arbeiten unseren Teil dazu bei, Änderungsprozesse, besonders der Eisschilde auf Grönland und dem antarktischen Kontinent, zu verstehen. Messen können wir natürlich erst mal nur, was gegenwärtig abläuft. Aber wir können damit auch Einblicke in die Vergangenheit geben. Und Gegenwart und Vergangenheit zu kennen, hilft dann wieder Klimaforschern und Glaziologen, Prozesse und Mechanismen zu verstehen und damit in die Zukunft zu rechnen. Konkret geht es zum Beispiel um die Oberflächenhöhe eines Eisschildes. Dort liegen zwei bis drei Kilometer Eis auf dem Land, und die Eisdicke und damit die Oberflächenhöhe verändert sich. Diese Änderungen messen wir vor allem mit Satelliten. Aber um diese Satellitendaten zu überprüfen und zusätzliche Daten zu gewinnen, gehen wir an ausgewählte Stellen vor Ort.
Außerdem gehen wir auf das eisfreie Land in der Nähe des Eises. Dort messen wir an markierten Punkten, wie sich die Erdkruste bewegt. Denn die Erdkruste hebt oder senkt sich, wenn die Eismassen ab- oder zunehmen, weil ihr Druck auf die Erdoberfläche sich dann ändert. Die Bewegungen, die wir jetzt beobachten, sind dabei zum Teil Reaktionen auf Eismassenänderungen der letzten Jahrtausende. In Nordeuropa hebt sich zum Beispiel die Erdkruste immer noch, weil sie sich davon erholt, dass vor zehntausend Jahren die Vereisung verschwunden ist. Damit bekommen wir gemeinsam mit den Modellen von Geophysikern Einblicke in die Vereisungsgeschichte, aber auch in Eigenschaften des Erdinneren.
Was konnten Sie über den Meeresspiegelanstieg herausfinden?
Der Meeresspiegel ist eine integrale Größe, in die sehr viele Klimaänderungsprozesse eingehen. Bei Klimaänderungen geht es ja immer um langfristige Änderungen, und die sind als Meeresspiegeländerung eindeutig messbar. Man weiß aus Pegelmessungen, dass der Meeresspiegel im 20. Jahrhundert im Mittel eineinhalb Zentimeter pro Jahrzehnt angestiegen ist. Seit den 1990er-Jahren, also seit man mit Satelliten noch flächendeckender messen kann, sind wir bei mehr als drei Zentimetern pro Jahrzehnt. Sozusagen als Probe dafür, wie gut die Wissenschaft diesen Anstieg erfasst und versteht, schätzt man die einzelnen Beiträge zum Meeresspiegel noch einmal ab. Und guckt dann, ob die einzelnen Beiträge mit dem zusammenpassen, was man insgesamt gemessen hat. Beiträge sind zum einen die thermische Ausdehnung des Meerwassers, das sich erwärmt und deshalb ausdehnt. Zum anderen der Effekt der Wassermassen, die zum Ozean dazukommen, vor allem durch das Schmelzen der vielen Gletscher und der beiden großen Eisschilde auf Grönland und auf dem antarktischen Kontinent. Und so haben wir gezeigt, dass die einzelnen Beiträge mit der Summe des Meeresspiegelanstiegs zusammenpassen: sowohl über den Gesamtzeitraum von 1993 bis 2016 als auch in den Schwankungen von Monat zu Monat.
Das Interessante am Meeresspiegel als Klimaindikator ist, dass er eindeutig messbar ist – da kommt keiner drum herum. Andere Auswirkungen der Klimaänderungen, von der Sie im Saarland oder ich in Sachsen oder Bewohner anderer Regionen noch direkter betroffen sind, wie die Häufigkeit von Extremwetterereignissen und Dürren, müssen immer mit Statistik bemessen werden. Und das ist oft schwerer zu vermitteln.
Können Sie anhand der Studie sagen, was uns in der Zukunft erwartet?
Anhand der Studie alleine natürlich nicht, weil wir vor allem die Gegenwart erfassen. Aber es gibt Modellrechnungen, die beispielsweise im sechsten Sachstandsbericht des Weltklimarates zusammengefasst sind. Sie setzen verschiedene Szenarien von Treibhausgasemissionen voraus. Es gibt ein optimistisches Szenario mit massiver Klimapolitik, die Treibhausgasemissionen verringert. Und dann gibt es am anderen Ende ein pessimistisches Szenario, wenn man sich also nicht um das Klima kümmern würde. Für das Jahr 2100, also für einen Zeitraum, den meine Kinder wohl ungefähr erleben werden, sehen die Projektionen so aus: Beim pessimistischen Szenario liegt ein wahrscheinlicher mittlerer Wert, um den von heute an bis 2100 der Meeresspiegel noch ansteigen würde, bei 80 Zentimetern. Und beim optimistischen Szenario erhält man einen Mittelwert von 40 Zentimetern. Die gute Nachricht ist also: Es macht einen wesentlichen Unterschied, welche Klimaschutz-Entscheidungen wir treffen – wie bei vielen anderen Auswirkungen des Klimawandels auch. Man muss dazusagen, dass wir keine exakten Zahlen angeben können, sondern wahrscheinliche Bereiche. Möglicherweise, aber wenig wahrscheinlich, kann der Meeresspiegel viel schneller ansteigen, als diese Zahlen angeben. Zum Beispiel, falls ein sogenannter Kollaps des Westantarktischen Eisschildes schneller als erwartet erfolgt.
Was würde selbst der optimistische Fall für die Menschen auf der Erde bedeuten?
Die Möglichkeit, den weiteren Anstieg im 21. Jahrhundert auf rund 40 Zentimeter zu begrenzen, ist natürlich eine gute Nachricht mit Einschränkungen. Nämlich, weil wir Prozesse ausgelöst haben, die nicht abrupt enden, selbst wenn wir abrupt Treibhausgasemissionen stoppen. Küstennahe Gesellschaften müssen sich also auf Meeresspiegelanstieg einstellen. Hunderte Millionen Menschen – also gar kein so kleiner Anteil der Menschheit – leben so meeresspiegelnah, dass sie im Jahr 2100 vom Risiko der Überflutung betroffen sein werden. Es geht auch darum, dass Extremereignisse wie eine Flutwelle dann noch entsprechend stärker und häufiger werden. Ein Extremwasserstand, der bisher so selten war, dass er im Schnitt alle 100 Jahre vorkam, wird im Jahr 2100 an einem Großteil der Küsten jährlich vorkommen. Kalifornien, London, Norddeutschland und so weiter stellen sich mit einem Mix aus Maßnahmen darauf ein.
Können Sie Beispiele nennen?
Wenn wir von Anpassung reden, also von einer Ergänzung zum Klimaschutz oder einer teureren Alternative dazu, so hängen die Maßnahmen sehr von den regionalen und lokalen Verhältnissen ab. Es gibt Möglichkeiten, Ökosysteme zu stärken, die die Küsten schützen. Es gibt die Möglichkeit harter Barrieren. Es gibt die Möglichkeit, Häuser auf Stelzen zu bauen oder ähnliches. Dann gibt es den Rückzug. Beispielsweise verlegt Indonesien seine Hauptstadt weg von der Küstenmetropole Jakarta, wo zum Meeresspiegelanstieg noch große Senkungen des Untergrunds hinzukommen. Oder es gibt sogar den Vorstoß, also dass man aktiv anders und in den Ozean hineinbaut.
Würden Sie sagen, wir haben bereits Kipppunkte beim Meeresspiegelanstieg erreicht?
Kipppunkt ist ein sehr bildhafter Begriff. Eine Bedeutung davon ist, dass es Prozesse gibt, die weitergehen, auch wenn der Auslöser zurückgenommen wird. Für den Grönländischen Eisschild und den Antarktischen Eisschild sind solche Mechanismen identifiziert: Verschiedene Studien deuten darauf hin, dass sie zwischen 1,5 und zwei Grad Celsius erreicht werden oder auch jetzt schon erreicht sind. Aber ich würde da jetzt nicht so fatalistisch rangehen. Sondern es eher so sehen, dass es auf einen Unterschied wie 1,5 oder zwei Grad globale Erwärmung durchaus ankommt.