Ein Unternehmen will Photovoltaik-Module zwischen Bahngleisen installieren, um Strom zu produzieren. Die Idee klingt genial – wären da nicht die vielen unbeantworteten Fragen.
Dichte Tannenwälder, wabernder Nebel, eine einsame Landstraße. Im Süden von Sachsen, kurz vor der tschechischen Grenze, liegt ein Bahnhof, der die Energiewende vorantreiben könnte. Wo genau er sich befindet, darf in diesem Artikel nicht verraten werden. Das Unternehmen, das hier seine Erfindung testet, spricht nur dann mit Medienvertretern, wenn man vorher eine Verschwiegenheitserklärung unterschreibt – eine von vielen Merkwürdigkeiten bei dieser Recherche.
Für Passagiere ist der kleine Bahnhof schon lange stillgelegt. Die Gebäude sehen verlassen aus, nebenan gräbt ein Bauarbeiter-Trupp die Erde auf. Erst auf den zweiten Blick offenbart sich die Besonderheit: Zwischen den Schienen liegen Photovoltaik-Module. Einmal am Tag fährt ein Zug über die Konstruktion, um ihre Langlebigkeit zu testen. Bisher laufe alles ohne Probleme, versichert die britische Firma Bankset, die die Module installiert hat.
Bankset spricht von einem riesigen Potenzial: Pro Kilometer könne 0,1 Megawatt Strom mit einer solchen Konstruktion erzeugt werden, schätzt das Unternehmen. Rechnet man dies aufs gesamte Gleisnetz der Deutschen Bahn hoch – rund 61.000 Kilometer –, käme man im Extremfall auf die Leistung von fünf Atomkraftwerken. Für den Ausbau erneuerbarer Energien wäre das ein gutes Zeichen. Keine lästigen Debatten mehr über Abstände zu Windrädern oder Bodenversiegelung durch Solarparks. Die Fläche wird ja sowieso schon genutzt. Ist die Energiewende also gerettet?
Ganz so einfach ist es nicht. Laut eigenen Angaben testet Bankset bereits seit sieben Jahren seine Erfindung. Das Ergebnis: Alles sei „sehr effizient und sicher" verlaufen, man stehe „zu 100 Prozent bereit". Umso mehr verwundert es, dass eine solch zukunftsträchtige Technologie noch nicht im flächendeckenden Einsatz ist. Bankset-Chef Patrick Buri, ein gebürtiger Österreicher, nimmt sich ausführlich Zeit, um seine Sicht der Dinge zu erklären. Dann aber möchte er doch nicht zitiert werden und verweist auf einen Sprecher. Zu sensibel sind die Verhandlungen mit der Deutschen Bahn, so klingt es an. Man wolle niemandem vorgreifen.
Die Bahn, die bis 2038 ausschließlich Ökostrom nutzen will, bestätigt, dass Bankset seine Solarzellen in Sachsen installiert hat. Dafür stelle man dem Unternehmen – genau wie anderen Firmen – eine Testanlage zur Verfügung. Auf die Frage, ob die Technik bald im großen Stil zum Einsatz komme, antwortet der Konzern ausweichend: Die Tests fänden „unabhängig davon statt, ob die DB die Technologie selbst in ihrem Streckennetz nutzen wird".
Auch zur eigenen Stromproduktion schweigt die Bahn beharrlich. Wie viele Photovoltaik-Anlagen befinden sich entlang von Lärmschutzwänden oder auf Bahnhofsdächern in Deutschland? Wie viel Strom erzeugen sie? Was ist in Zukunft geplant? Kein Kommentar. Auf erneute Nachfrage nennt die DB-Sprecherin lediglich einen 90 Hektar großen Solarpark in Mecklenburg-Vorpommern, der 30 Jahre lang Grünstrom liefern soll.
Mit dem großen Ganzen beschäftigt sich hingegen der Tüv Rheinland. Die Prüforganisation untersucht im Auftrag des Eisenbahn-Bundesamts, welches Potenzial Photovoltaik-Anlagen haben. „Wenn es gelingt, entlang des weitverzweigten Bahnstromnetzes Energie zu gewinnen und direkt einzuspeisen, könnte der Verkehrsträger Schiene seine Treibhausgas-Bilanz weiter verbessern", erklärt Tüv-Sprecher Wolfram Stahl. Er bestätigt, dass Bankset eine der Firmen ist, die der Tüv in seiner Studie untersucht. Nähere Ergebnisse gebe es aber noch nicht. Die Studie läuft seit Dezember 2021 und ist auf 14 Monate angelegt.
Zu den Firmen, die sich der Tüv näher ansieht, gehört auch das italienische Unternehmen Greenrail. Es stellt Bahnschwellen aus recycelten Autoreifen her und stattet diese ebenfalls mit Solarzellen aus. Bizarr: Auch hier möchte offenbar niemand über das eigene Projekt reden. Mehrere Kontaktversuche mit Greenrail blieben erfolglos. In einem früheren Interview mit CNBC aus dem Jahr 2018 gab die Firma jedoch genauere Einblicke: Demnach könnte ein Streckenkilometer bis zu zehn italienische Haushalte pro Jahr mit Strom versorgen. Das wäre deutlich mehr als bei Bankset – wenn es denn stimmt.
„Prinzipiell ist das Ganze eine sehr gute Idee", sagt Ulrich Maschek, Professor für Verkehrssicherungstechnik an der TU Dresden. „Warum sollte man Flächen nicht zur Energiegewinnung nutzen, die sowieso die meiste Zeit in der Sonne liegen?" Bei den Details ist der Eisenbahn-Experte, der sich die Teststrecke selbst angesehen hat, aber skeptischer. „Alle paar Jahre muss der Schotter im Gleis verdichtet werden", erklärt Maschek. „Das wird durch solche Aufbauten natürlich massiv erschwert." Auch stellt sich die Frage, wie sich Schmutz und Bremsstaub auf die Technik auswirken. Bankset will Roboter zur Reinigung einsetzen. „Aber ist dafür überhaupt Zeit?", wundert sich Maschek. „Auf den Hauptstrecken brummt nachts doch der Güterverkehr."
Unterschiedliche Interessen der DB-Geschäftsbereiche?
Über die Teststrecke in Sachsen rolle nur ab und zu ein Zug, und auch dies mit maximal 50 km/h. „Ein Stresstest ist das nicht", betont Maschek. Gerade im Bahnbetrieb komme es auf Sicherheit an: Wie reagieren die Module bei Eis und Schnee? Was passiert, wenn dauerhaft schnelle Züge darüberfahren? „Technisch lösbar sind diese Herausforderungen sicherlich alle", schlussfolgert der Professor. „Die Frage ist nur, ob sich der Aufwand dann finanziell überhaupt noch lohnt."
Ist die Deutsche Bahn deshalb so zögerlich? Experten, die sich mit den internen Strukturen des Staatskonzerns auskennen, vermuten eher einen anderen Grund: Demnach könnten die verschiedenen Geschäftsbereiche (DB Fernverkehr, DB Netze Fahrweg, DB Netze Energie) unterschiedliche Interessen verfolgen. Salopp formuliert: Die Technik, die den einen freut, stört womöglich den anderen, weil er sie fortwährend kontrollieren müsste. Schon heute erreichen nur 75,2 Prozent aller Fernzüge pünktlich ihr Ziel (Stand: 2021). Wenn neben kaputten Weichen und umgefallenen Bäumen auch noch defekte PV-Module als Ursache hinzukämen, wären das keine guten Aussichten.
Vielleicht hängt die Zurückhaltung der Deutschen Bahn auch mit den Erfahrungen der Vergangenheit zusammen. Schon mehrfach haben Unternehmen versprochen, Fahrbereiche für die Stromerzeugung nutzbar zu machen. In den USA sammelte ein Ehepaar per Crowdfunding mehr als 2,2 Millionen Euro, um „Solar-Highways" zu bauen. Seither hat man von dem Projekt nichts mehr gehört. In Erftstadt bei Köln deckte die Feuerwehr 2019 einen Solar-Radweg mit Folie ab, damit er keinen Strom mehr produziert. In die Anlage war Wasser gelaufen, was zu einem Kurzschluss führte. Sind derartige Projekte damit für immer tot? Vermutlich nicht. Zu groß ist die Not, sich angesichts des Klimawandels von fossilen Energien zu verabschieden. Bankset-Chef Patrick Buri hat also durchaus gute Argumente in der Hand – wenn die Deutsche Bahn sie hören möchte.