Die Corona-Sommerwelle entwickelt sich zu einem massiven Problem und macht sich in allen Lebensbereichen zunehmend bemerkbar. Impfen ist deshalb wieder zu einem Thema mit hoher Priorität geworden.
Die Entwicklung hat sich lange abgezeichnet. Erstaunlich war schon, dass weder die extrem steigenden Inzidenzzahlen noch warnende Expertenhinweise jemanden so wirklich in große Unruhe zu versetzen schienen. Beigetragen dazu hat vermutlich auch, dass sich die Zahl der schweren Verläufe bei Infektionen in einigermaßen überschaubaren Grenzen hielt. Aber auch da hat sich schon länger angedeutet, dass die Hospitalisierungsrate, also die Häufigkeit stationärer Behandlungen von Corona-Patienten, steigt. Deutlich spürbar war die Entwicklung aber schon vorher durch die Folgen der Krankschreibungen. Insbesondere kleinere Betriebe mussten in Einzelfällen vorübergehend schließen, weil Personal ausgefallen war. Auch das Chaos an den Flughäfen war – nicht nur, aber auch – durch coronabedingte Ausfälle begründet.
Damit hat das Thema Impfen wieder eine neue Priorität. Auch das war nach dem Scheitern der Impfpflicht ziemlich in den Hintergrund getreten, sieht man davon ab, dass auf Bundes- und Länderebene immer wieder beteuert wurde, zum Ende der Sommerzeit noch einmal eine intensive Impfkampagne starten zu wollen, um auf eine drohende Herbstwelle vorbereitet zu sein.
Seit Wochen greift nun – erstmals in der Pandemie – eine massive Sommerwelle um sich. Omikron hat, wenig überraschend, neue Varianten herausgebildet, die ansteckender sind als die bisherigen. Und die waren schon deutlich ansteckender als vorherige Mutationen.
Stiko wartet bessere Datenbasis ab
Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat nun auch für unter 60-Jährige eine zweite Booster-Impfung empfohlen. Er würde auch Jüngeren „natürlich in Absprache mit dem Hausarzt" eine vierte Impfung anraten. „Dann hat man eine ganz andere Sicherheit." Booster-Impfungen auch für Menschen unter 70 (Älteren war das ohnehin empfohlen) werden schon länger von verschiedenen Seiten gefordert. Die Ständige Impfkommission (Stiko) hat sich aber bislang noch zurückhaltend gezeigt, wollte erst eine größere Datenbasis abwarten, um über eine offizielle Empfehlung zu entscheiden.
Nun ist der Druck der Entwicklungen offenbar so groß, dass es zumindest politisch den Aufruf dazu gibt. Möglich war eine weitere Impfung übrigens bereits die ganze Zeit über. Hausärzte konnten eine vierte Impfung durchführen, wenn Patienten es wollten und kein wichtiger Grund dagegen sprach. Auch ausreichend Impfstoff war vorhanden. Es fehlte sozusagen nur die „amtliche" Empfehlung.
Die EU war etwas schneller. Schon Tage zuvor hatte EU-Gesundheitskommissarin Stella Kyriakides nach einer Mitteilung der EU-Gesundheitsbehörde und der EU-Arzneimittelbehörde Ema dringend dazu aufgerufen, dass über 60-Jährige und vulnerable Gruppen eine zweite Booster-Impfung bekommen sollten. Ihr Aufruf klang dabei ziemlich dramatisch: „Wir haben keine Zeit zu verlieren." Dabei hatte sie den europaweiten Anstieg der Infektionszahlen und die steigende Krankenhausbelegung im Blick. Frankreich und Italien hatten längst wieder Inzidenzzahlen im vierstelligen Bereich, in Deutschland begannen sich die Zahlen in dieselbe Richtung zu entwickeln. Ebenso in Spanien, das in dieser Welle zunächst noch glimpflicher davonzukommen schien. Auch die EU-Behörden hatten bis dahin zunächst nur offizielle Empfehlungen für Menschen über 80 und vulnerable Gruppen herausgegeben. Die Entwicklung erforderte nun aber deutlichere Schritte.
Wie valide die Zahlen aus anderen Ländern sind, lässt sich nur bedingt einordnen. Für Deutschland gilt jedenfalls, dass es eine deutliche Untererfassung der realen Situation gibt. Darauf weisen Experten ziemlich übereinstimmend schon länger hin. In den offiziellen Zahlen sind nur bestätigte PCR-Tests erfasst. Nicht enthalten sind alle mit positivem Schnelltest, die danach aber keinen PCR-Test machen lassen. Und die Zahlen dürften noch ungenauer sein, seit die bislang kostenlosen Bürgertests ausgelaufen sind und kostenfreie Tests nur noch bestimmten Gruppen und mit einigem Aufwand möglich sind. Inwieweit sich damit die Zahl der Tests insgesamt verringert hat, kann nur vermutet werden, genaue Daten lagen bis Redaktionsschluss nicht vor.
Die Sommerwelle, insbesondere deren Intensität, hat viele überrascht. In den ersten beiden Pandemiejahren hatten die Sommermonate für Entspannung und ein gewisses Durchatmen gesorgt. Insofern mag die Konzentration auf die Vorbereitung für den nächsten Pandemieherbst nachvollziehbar sein.
Die Grundherausforderung, durch eine hohe Impfquote Schutz aufzubauen, was nach wie vor als die wirksamste Waffe gegen die Pandemie gilt, ist aber nicht wirklich neu. Ebenso, dass der Impfschutz mit der Zeit nachlässt und neue Varianten des Virus versuchen, den Impfschutz zu unterlaufen – Experten sprechen von Escape-Varianten. Auffrischungen, also das sogenannte Boostern, sind deshalb eine wirksame Gegenwehr.
Zweiter Booster senkt Todesfälle
Das ist inzwischen unstrittig anerkannt: Es hilft nicht gegen Infektion, aber gegen schwere Verläufe. Belegt wird das immer wieder neu durch Studien unterschiedlichster Art und aus den verschiedensten Ecken der Welt. Israel war bei den ersten Impfkampagnen meist Spitzenreiter im globalen Vergleich. Auch deshalb gibt es dort mehr Studien, die frühzeitig Ergebnisse liefern, und vor allem können wegen des frühen Starts und der praktisch flächendeckenden Impfung dort auch längerfristige Folgen früher als anderswo mit erfasst und studiert werden. Dazu kommt, dass Israel in Sachen Digitalisierung im Gesundheitsbereich völlig anders aufgestellt ist, sodass die zur Verfügung stehenden Daten eine entsprechende Qualität haben.
Israel hat bereits im Januar eine zweite Booster-Impfung für über 60-Jährige und für Risikogruppen zugelassen, die auch wissenschaftlich begleitet wurde. Das Ergebnis: Obwohl zu diesem Zeitpunkt hohe Infektionsraten herrschten, blieb die Zahl der Todesfälle gering und Krankenhausbehandlungen überschaubar: eine erneute Bestätigung, dass Impfen vor schweren Verläufen schützt. Aber zu diesem Zeitpunkt brachte die Studie auch ein weniger erfreuliches Ergebnis: Mit der zweiten Booster-Impfung hatte sich zwar die Zahl der Antikörper verfünffacht, trotzdem biete sie nur teilweise Schutz vor dem Virus, wie Studienleiterin Gili Regev-Yochay damals feststellte. Hintergrund war die rasante Ausbreitung der Omikron-Variante. Für Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach stand folglich fest: Eine auf die Omikron-Varianten zugeschnittene Modifizierung des Impfstoffs werde „dringend gebraucht".
Heute, ein halbes Jahr später, gibt es diese Anpassung, sie steht im abschließenden Zulassungsverfahren. EU-Kommissarin Kyriakides bestätigte, dass auf eine Zulassung „im September hingearbeitet" werde, und das mit Hochdruck. Bis dahin sei auf jeden Fall empfehlenswert, das Boostern mit vorhandenen Impfstoffen voranzutreiben, vor allem für die vulnerablen Gruppen und alle, die mit ihnen Umgang haben – was letztlich aber heißt: eigentlich alle.
Das grundlegende Problem ist jedoch weniger die zweite Booster-Impfung. Denn schon beim ersten Booster lassen die Zahlen den Schluss zu: Wer schonmal grundsätzlich bereit war, sich durch Erst- und Zweitimpfung eine Grundimmunisierung zu verschaffen, hat auch hohe Bereitschaft, den nächsten Schritt zu tun. In den vergangenen Monaten ist die Zahl der Booster-Impfungen konstant gestiegen, während die Zahl derjenigen, die zur ersten Impfung für eine Grundimmunisierung gehen, kaum Fortschritte gemacht hat.
Die Herausforderung ist also weiterhin, bislang Ungeimpfte zu überzeugen. Für die angekündigten Kampagnen vor einer Herbstwelle ist diese Herausforderung – angesichts der im Vergleich mit anderen Ländern immer noch bescheidenen Impfquote in Deutschland – keine geringe. Was womöglich mehr hilft als überzeugende Argumente, ist der Hinweis, dass ansonsten nicht ausgeschlossen ist, dass uns im Herbst vergleichbare Maßnahmen ins Haus stehen könnten wie in den letzten Jahren. Denn das dürfte sich keiner wünschen.