Die 34. Ausgabe des renommierten Festivals „Tanz im August" kommt mit einem vielfältigen Programm daher – an unterschiedlichsten Spielorten werden dynamisch-kraftvolle Ensemblestücke, eindringliche Soli und experimentelle Formate aus rund 20 Ländern gezeigt.
Es ist fast ein Neubeginn und zugleich ein Abschied. Berlins Festival „Tanz im August" kann nach den Einschränkungen der beiden durch Corona verhinderten Jahrgänge mit ihren Online- respektive Hybrid-Ausgaben endlich wieder live stattfinden. Dass es die letzte von Virve Sutinen kuratierte Edition ist, bleibt zu bedauern. Hatte die international gut vernetzte Finnin doch seit ihrer Berufung 2013 der etwas angestaubten Zusammenschau frischen Glanz verliehen und sie auch neu strukturiert, was sich bewährte. Weshalb sie nun abgelöst wird, bleibt eine Entscheidung des Hau Hebbel am Ufer, das jetzt die Alleinverantwortung für das 1989 gegründete Festival trägt. Ob Coup oder Cut wird sich zeigen.
Die 34. Ausgabe des renommierten Tanzfestivals kann jedenfalls mit einer beachtlichen Vielfalt an Gastspielen punkten. Drei Wochen lang, vom 5. bis 27. August, bringen 22 Produktionen, darunter Uraufführungen und Deutschlandpremieren, rund 200 Künstlerinnen und Künstler aus über 25 Ländern in hauptstädtische Spielorte. Auftreten werden sie, außer im Hau mit seinen drei Bühnen, auch im wieder,geöffneten Haus der Berliner Festspiele, im Kindl-Zentrum in Berlin-Neukölln, außerdem im Radialsystem, den Sophiensaelen, der St. Elisabeth-Kirche und der Volksbühne.
Zu den von Virve Sutinen eingeführten, wiewohl aufwendig zu organisierenden Schwerpunkten gehört die jeweils einer Künstlerin gewidmete Retrospektive: 2015 der inzwischen verstorbenen Britin Rosemary Butcher, 2017 der Schweiz-Spanierin La Ribot, 2019 der mittlerweile 81-jährigen amerikanischen Choreografie-Legende Deborah Hay. Diesmal präsentiert Cristina Caprioli 22 ihrer interdisziplinär und kollaborativ entstandenen, damit grenzverschiebenden Arbeiten zu Tanz, Film, Text und Installation. Caprioli wurde 1953 in Norditalien geboren, arbeitete als professionelle Tänzerin unter anderem in New York, in Deutschland und Schweden. Hier begann sie in den 1980er-Jahren zu choreografieren, rief in ihrer Wahlheimat Schweden zwei Plattformen ins Leben, mit den beteiligten Künstlern und Kreativen wurden zahlreiche Bühnenstücke, Installationen und Ausstellungen entwickelt. Eine repräsentative Auswahl dieser Arbeiten kann man verstreut über die Festivaltage an verschiedenen Orten sehen, zudem gibt es ein „Meet the Artist".
Kulturerbe wird thematisiert
Was die aktuelle Ausgabe zusätzlich spannend macht, sind die Gruppen, die ihr nationales Kulturerbe thematisieren und einem hierüber weniger informierten Publikum nahebringen. So nimmt die Gruppe Marrugeku in „Jurrungu Ngan-ga / Straight Talk" Berichte eines Yawuru-Ältesten und die eigene Lebensgeschichte als Vertriebene, Exilierte und Zwangsangesiedelte zum Ausgangspunkt. Yawuru sind offiziell gern verschwiegene Indigene aus Westaustralien. In „Siguifin", „Magische Monster", setzen sich auf Anregung des franko-senegalesischen Choreografen Amala Dianor neun junge afrikanische Tänzer und Tänzerinnen sowie drei Choreografen und Choreografinnen aus Senegal, Burkina Faso und Mali mit Individualität, Zusammenhalt und Vielfalt des afrikanischen Tanzes auseinander. In eine andere Gegend des Globus führt die samische Choreografin Elle Sofe Sara. Ihr Beitrag „Vástádus eana – The answer is land" verbindet persönliche Gefühle über die Zerstörung unseres Ökosystems mit dem Joik-Gesang, einer Form gutturalen Jodelns dieser indigenen Gemeinschaft aus Nordskandinavien.
Umjubelter Festivalgast war bereits mehrmals La Veronal aus Spanien. Ihr international umtriebiger Leiter Marcos Morau zeigt in „Sonoma" die Reise von neun Frauen in trachtenähnlichen Kostümen an einen traumartigen Ort zwi-schen Schlaf und Fiktion, konzipiert als Hommage an die surrealistischen Filme seines Landsmanns Luis Buñuel. Traditionell bunte Kleidung mit Hörnern als Kopfschmuck tragen die acht Spieler der Südafrikanerin Robyn Orlin, wenn sie in Erinnerung an die Kindheit im Johannesburg der Apartheid den Praktiken von Zulu-Rikschafahrer nachfahnden. Hinter dem äußeren Zauber deckt Orlin Widerstandskampf und Würdeverletzung auf. Zumindest als Gestalten in kuriosen Kostümen lassen die „Urban Creatures" von Sebastian Matthias an die beiden genannten Aufführungen anknüpfen, obwohl es hier inhaltlich um eine lebende Soundinstallation und die Gefahren des Digitalen geht.
Freuen darf man sich auf das Wiedersehen mit dem thailändischen Tänzer-Choreografen Pichet Klunchun. In „No. 60" untersucht er die 59 Posen des 700 Jahre alten klassisch thailändischen Khon-Tanzes und entwirft dabei ein neues Formenrepertoire. Gern gesehen in Berlin sind ebenso Bruno Beltrão und seine zehnköpfige athletische Grupo de Rua aus Brasilien. Was schlicht „New Creation" heißt, verschweißt im typischen Beltrão-Mix Breaking, Hip-Hop und zeitgenössischen Tanz und will so die turbulente politische Situation, die sozialen Konflikte und Gewaltentladungen in seiner Heimat sichtbar machen. Mit einem „perkussiven Körperkonzert", so die Ankündigung, stellen sich der spanische Flamenco-Erneuerer Israel Galván sowie der Musiker und Sänger Niño de Elche als „Mellizo Doble", „Zwillingsdoppel", vor.
Vom thailändischen Tanz bis Vogueing
Als Nachfahrin der Quimbaya, einer uralten, von den spanischen Konquistadoren unterdrückten präkolumbianischen Zivilisation, widmet sich die Brasilianerin Martha Hincapié in dem vielschichtigen Ritual „Amazonia 2040" dem unheilvollen Schicksal des Amazonas-Regenwalds. Aus Nordamerika stammt Trajal Harrell. Löste sein schier endloser Erstauftritt bei „Tanz im August" vor Jahren noch Irritationen aus, ist er mit seinen Voguing-Stücken mittlerweile hier angekommen. Auch diesmal geht es um jenen in der schwulen Ballroom-Szene der 1970er im New Yorker Harlem kreierten Tanzstil. Dass Harrell und sein gerade gegründetes Schauspielhaus Zürich Dance Ensemble Keith Jarretts „The Köln Concert" zur musikalischen Grundlage wählten, dürfte Erinnerungen an Birgit Scherzers Langzeiterfolg „Keith" 1988 an der Komischen Oper wecken.
Vielfältig ist auch, was das Festival außerdem bietet. Er habe drei Probleme: den Kapitalismus, das Patriarchat und warum Kunst uns nicht retten kann, wird der Kanadier Frédérick Gravel, Künstlerischer Direktor von DLD Daniel Léveillé Danse, zitiert. In seinem Solo „Fear & Greed" offenbart er diese Ängste, lässt Tanz, Gesang und Selbsttherapie ineinander überfließen und versucht, getrieben von Musik einer Live-Rockband, sich wieder mit der Welt zu verbinden. Ebenfalls aus Kanada kommt Daina Ashbee. Ihr erstes Gruppenstück mit dem länglich bilingualen Titel „J’ai pleuré avec les chiens – Time, Creation, Destruction" erkundet das Gefühl des Trosts, wenn wir unseren Gefährten, den Hund, an uns drücken und mit ihm titelgemäß weinen. Sieben nackte Körper steigen dazu übereinander und erleben tranceartige Zustände. Inwiefern sich Ashbee so, wie behauptet, kapitalistischen und kolonialistischen Kategorien verweigert, wird man sehen.
Die Finnin Maija Hirvanen fragt in „Mesh" nach der Bedeutung des Menschseins schlechthin und verflicht vier Tänzerinnen in eine pilzmycelhafte Kommunikation. Auch der Choreograf Jefta van Dinther beschäftigt sich mit einem typisch menschlichen Verhalten: dem Verlangen, Vergangenes wiederzubeleben. Zehn Tänzer forschen in der vierstündigen Performance „Unearth" dem psychischen und physischen Erfindungsreichtum unseres Körpers nach, seinem Sinn, seiner Sterblichkeit. Mette Ingvartsen zieht in ihrem Solo „The Dancing Public" das mittelalterliche Phänomen der Tanzwut in die Gegenwart: als erschöpfenden Partytanz in Nach-Corona-Zeiten. Die Irin Oona Doherty hinwiederum entwirft in „Navy Blue" ein Universum, das zwölf Tänzer der Arbeiterklasse in eine endlose Produktionskette verstrickt. Den Bogen zum klassischen Tanz schlägt der US-Amerikaner Adam Linder, der in „Loyalty" ein Tänzerquintett nach einem neuen, hybriden Bewegungsvokabular suchen lässt.