Die Fallzahlen sind hoch, wieder geistert das Schlagwort „Durchseuchung" durch die Medien. Diese ist möglich, löst aber das Problem nicht, denn: So entstehen Fluchtmutationen, die den derzeitigen Impfstoffen entkommen können.
Wir werden durchseucht, daran führt diesen Sommer kein Weg vorbei. Oder? Die Inzidenzen, die papierdünne Personaldecke vieler Unternehmen, Institutionen, Krankenhäuser durch hohe Krankenstände sprechen jedenfalls Bände. Jede Woche infizieren sich etwa 500.000 Bürger. Von „Durchseuchung durch die Hintertür" aber könne keine Rede sein, sagt Gesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD). Dennoch: Die aufgehobenen Maßnahmen und das Bremsen der FDP, wenn es um neue Maßnahmen im kommenden Herbst geht, erinnern daran, dass das Mittel der Durchseuchung an verschiedenen Zeitpunkten der Pandemie als Möglichkeit schon einmal im Raum stand – wenn auch nur kurz: Angesichts der damals noch deutlich letaleren Varianten war dies keine Option für andere europäische Länder, bis auf Schweden, wo anteilsmäßig mehr Menschen an Corona starben als in Deutschland.
Die aktuelle Variante Omikron BA.5 gilt als hochansteckend, in ihren Verläufen aber als mild. Sie einzudämmen wäre, sofern es noch Maßnahmenkataloge gäbe, allenfalls nur unter erhöhtem Aufwand machbar. Auch nicht zuletzt deshalb lässt man laufen – ohne Maske, ohne weitere öffentliche Eindämmungen. Aber wirkt dieses weiter verbreitete Infektionsgeschehen nachhaltig gegen das Virus, indem es flächendeckende Resistenzen erzeugt? Keinesfalls, sagen jedenfalls Virologen. Einer Publikation von deutschen Forscherinnen und Forschern des deutschen Primatenzentrums in Göttingen zufolge wirken Antikörper früherer dominierender BA-Varianten gegen das aktuelle BA.5 deutlich schlechter. Heißt: Wer mit BA.1 oder anderen vorherigen Varianten infiziert war, kann sich trotzdem leicht BA.5 einfangen. Umgekehrt könnte das für spätere BA-Varianten, und sie wird es garantiert geben, ebenfalls gelten.
Lauterbach warnt daher vor einem schwierigen Herbst – zu Recht, denn die aktuell hohen Ansteckungszahlen lassen befürchten, dass die Fallzahlen, zusätzlich zu Grippefällen, zu noch deutlich mehr Ausfällen von Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern führen können.
Geringerer Schutz durch Antikörper
Denn wer mit BA.5 infiziert war, könnte sich trotz Impfung schnell wieder anstecken. US-Forscher haben kürzlich im renommierten „New England Journal of Medicine" eine Studie publiziert, wonach die Zahl der Antikörper, die genau diese Coronavirus-Variante sicher bekämpfen, bei Geimpften, Geboosterten wie auch kürzlich erst wieder von der Variante genesenen Personen deutlich reduzierter war im Vergleich zum Ursprungstyp des Virus. Man könnte also sagen: Das Virus verändert sich rascher als die Antikörper und die Impfstoffe. Doch die geringe Fallzahl der untersuchten Probanden in der Studie sowie die Tatsache, dass es in allen Fällen noch genügend Schutz vor schweren Krankheitsverläufen gibt, muss nicht unbedingt die Alarmglocken schrillen lassen. Es könnte jedoch ein Hinweis sein, dass die Impfungen rascher angepasst werden müssen, auch im Hinblick auf eine mögliche vierte Impfung zum Herbst.
Denn mit einer nun erhöhten Verbreitung des Virus erhöhen sich auch die Chancen, dass es neue sogenannte Escape-Varianten bildet. Das sind Subtypen des Virus, die dem derzeitigen Stand der Antikörper und des Impfschutzes entgehen und sich dadurch wieder ungehindert weiterverbreiten können, so wie aktuell BA.5. Fluchtmutationen sind ein durchaus beeindruckendes Beispiel der Evolution, auch wenn Viren streng genommen keine Lebewesen sind, weil sie keinen eigenen Stoffwechsel besitzen und eben den der Wirtszelle brauchen, um sich zu vermehren. Die Omikron-Variante nun weist auch eine Immunflucht-Mutation auf, heißt, sie entkommt auch leichter den durch eine Infektion oder eine Impfung gebildeten Antikörpern im menschlichen Körper. Dennoch zeigen Studien, dass das Risiko, an einem schweren Verlauf von Corona zu sterben, mit einer Impfung auch bei Omikron weiter um 90 Prozent reduziert bleibt.
Eine Impfung senkt das Todesrisiko also weiterhin deutlich, eine zusätzliche vorherige Infektion mit der Alpha-, Beta oder Delta-Variante bieten den sichersten Schutz, so die renommierte Fachzeitschrift „Nature". Und: Wer mit einer Omikron-Variante infiziert war, ist gut geschützt gegen weitere Omikron-Varianten. Es sei denn, das Virus bildet neue Varianten, und das liegt in seiner Natur. Insbesondere bei schneller Verbreitung, wie derzeit, steigt auch die Chance, dass sich Menschen mit zwei Varianten des Virus gleichzeitig infizieren. Tauschen diese bei der Vermehrung Erbgutinformationen aus, entstehen Hybridvarianten, die noch resistenter gegen Antikörper sein können. Sprich: Entkommen können wir dem Virus auch bei einer Durchseuchung mit Omikron BA.5 nicht. Dafür wird die natürliche Evolution schon sorgen.