In dem Gebiet, das im nordwestlichen Brandenburg an Mecklenburg-Vorpommern, Niedersachsen und Sachsen-Anhalt grenzt, liegt das schöne Städtchen Perleberg. Hier finden Besucher behutsame Pflege der jahrhundertealten Architektur – und eine Bilderbuch-Altstadt.
Samstagvormittag, blauer Himmel, Wattewolken, Sonnenschein, 10.30 Uhr. Auf dem Großen Markt, dem Zentrum der überschaubaren Altstadt von Perleberg, wird vor dem Café das erste Frühstück serviert, einen Steinwurf entfernt werden die Tische eines griechischen Lokals eingedeckt. Zwei, drei Fahrradtouristen, schwer bepackt für eine längere Tour, setzen sich auf die umstehenden Bänke und studieren ihre Radwanderkarten. Es scheint, als habe jemand mit unsichtbarer Hand die Zeit angehalten, zeitlupenartige Betulichkeit wohin man schaut.
Selbst die wenigen Autos, die den Platz umkreisen, fahren in überaus gemächlichem Tempo. Zwar haben in der benachbarten Bäckerstraße, die niemand ernsthaft eine Geschäftsmeile nennen würde, schon die ersten Läden geöffnet, aber auch dort keine Spur von Hektik. Das wird sich im Laufe des Tages nicht ändern. Alles hat in Perleberg seine Zeit. Als eine von insgesamt 31 Städten in Brandenburg wurde Perleberg als „Stadt mit historischem Stadtkern" zertifiziert, und das passt hier perfekt zusammen: die behutsame Pflege der jahrhundertealten Architektur und die Entschleunigung im Hier und Jetzt. Bergig ist es hier nicht, auch Perlen wurden bislang nicht gefunden, und so bleibt die Herkunft des Stadtnamens unklar. Manche Sprachforscher haben ihn als vage Bezeichnung für „lehmige Hütten" gedeutet, und das käme der frühen Wirklichkeit schon nahe. Denn feucht und sumpfig war dieser Flecken, auch heute noch eine Insel, umflossen vom Flüsschen Stepenitz, der in der Nähe von Meyenburg entspringt, bei Wittenberge in die Elbe mündet und als eines der saubersten Gewässer Brandenburgs gilt. Dafür spricht sicherlich die Rückkehr von Meerforellen und Elbelachsen. Wie in der ganzen Gegend hier waren es die Slawen, die zu Beginn des 9. Jahrhunderts die Stepenitzniederung besiedelten und auch die 300 Jahre später vordringenden deutschen Kolonisten schätzten die schützende Insellage. Schnell siedelten sich hier Fischereien, Gerbereien und Wollwäschereien an, es kamen Schneider, Bäcker, Schuhmacher, Kaufleute und Händler hinzu. Perleberg wuchs rasch zu einem größeren Ort mit mehreren Straßen und Plätzen, einer Burg und einer Kirche, sodass die Verleihung des Salzwedeler Stadtrechts 1239 nur folgerichtig war.
Das Städtchen entwickelte sich zum wirtschaftlichen und politischen Zen- trum der Prignitz. Von 1359 bis 1447 war die Stadt Mitglied der mächtigen Hanse. Ihre Handelsbeziehungen erstreckten sich über Land zu den großen mittelalterlichen Handelsstraßen, zu Wasser über Stepenitz und Elbe bis in den Nord- und Ostseeraum. Vor allem mit Tuch, Fisch, Holz und Salz wurde gehandelt, und die Stadt prägte ihre eigene Münze. Auf die Verbindung zum skandinavischen Raum verweist der fünfarmige Leuchter im hohen Chor der St.-Jacobi Kirche, denn nahezu identische Leuchter sind auch in Stockholm, Lund und Tallinn zu finden. Einflussreiche Bürger und wohlhabende Kaufmannsfamilien bestimmten damals die Geschicke der Stadt und dies in aller Öffentlichkeit. Das alte Rathaus, 1347 erstmals erwähnt, war ein lang gezogenes, zweistöckiges Gebäude, in dem nicht nur Märkte abgehalten wurden, sondern auch das Gericht öffentlich tagte. Das zunehmend politische Gewicht der Stadt drückte sich 1420 im hier besiegelten Perleberger Frieden aus, der einen Schlussstrich unter die kriegerischen Konflikte um territoriale Fragen zwischen dem Herzogtum Sachsen-Lauenburg einerseits und den Hansestädten Hamburg und Lübeck andererseits zog.
Die Schweden plünderten die Stadt
Das heute zu besichtigende Rathaus, das den Großen Markt architektonisch bestimmt, steht an der Stelle des 1830 baufällig gewordenen Rathauses, von dem nur der mittelalterliche Westteil erhalten blieb. Es wurde aus eigenen Mitteln der Stadt vom königlichen Hofbaurat August Stühler errichtet, da das knauserige Potsdam Fördermittel verweigerte. Neogotische Formen und der Turm in der Mitte der Ostfassade prägen das Gebäude. Ihm gegenüber steht eine weitere Sehenswürdigkeit, der Perleberger Roland. Und die Perleberger sind so stolz auf ihn, dass die Stadt den nichtamtlichen Namenszusatz „Rolandstadt" tragen darf. Roland-Standbilder, hauptsächlich in Nord- und Mitteldeutschland zu finden, verkörpern das Selbstbewusstsein und die Privilegien ihre Städte wie Unabhängigkeit vom Landesherren, Ratsfreiheit, Handelsrechte und Gerichtsbarkeit.
Auf der Rückseite der 4,26 Meter hohen Figur aus Elbsandstein steht die Jahreszahl 1546, und es lohnt die genauere Betrachtung. Sein Helm mit offenem Visier, die schalenförmigen Schulterstücke und Kniekacheln, der löwenkopfverzierte Harnisch, Schild und Schwert verleihen der Figur Stolz und Stärke. Das stark verwitterte Relief zeigt Szenen aus der Herkules-Sage. Doch das Symbol allein konnte den Niedergang Perlebergs in Folge des Dreißigjährigen Krieges nicht verhindern. Hier brandschatzten und plünderten die Schweden, es wütete die von den Schlachtfeldern eingeschleppte Pest, die Hunderte von Einwohnern dahinraffte.
Doch neben Rathaus, Roland und St. Jacobi-Kirche steht am Großen Markt 4 noch ein besonderes Schmuckstück, das Knaggenhaus. Es ist das älteste und bedeutendste Bürgerhaus der Stadt, von einem reichen Kaufmann vermutlich 1525 errichtet. Auf Initiative des Perleberger Bürgervereins wurde es aufwendig restauriert, wobei die heutige historische Bausubstanz mit dem Wiederaufbau der Stadt nach dem Dreißigjährigen Krieg entstand. Wie das Knaggenhaus wurden die ältesten Fachwerkhäuser mehrstöckig errichtet: im Erdgeschoss lag eine hohe Diele mit Toreinfahrt, um die Ballen, Tonnen und Säcke der Kaufleute dann auf dem Speicher im Dachgeschoss zu lagern. Über der Toreinfahrt befanden sich die Wohnräume. Besondere Beachtung gilt den Knaggenfiguren auf den Vorsprüngen der Vorderfront. Zu den geistlichen Personen wie Christus und den vier Aposteln gesellen sich ganz und gar weltliche Vertreter wie König, Kriegsknecht, Bürgerfrau und Prostituierte. Und der Schelm, der dem gegenüberliegenden Rathaus frech die Zunge herausstreckt, mag als Symbol wirtschaftlicher Macht gegenüber der lokalen Politik aufgefasst werden.
Nach Stadtbummel Erholung im Grünen
Rund um den großen Markt flaniert der Besucher durch eine Bilderbuch-Altstadt. Zahlreiche Winkel, Abkürzungen und überraschende Perspektiven zwischen Marktplatz und Bürgerhäusern zeigen eine historisch gewachsene Kreisstadt, der im 19. Jahrhundert auch die preußische Verwaltung ihren Stempel aufdrückte: Öffentliche Gebäude wie die Post und der Bahnhof entstanden neben Banken und Schulen. In diese Zeit fällt auch der wirtschaftliche Wiederaufstieg Perlebergs, wobei vor allem zwei Produkte weit über die Grenzen der Prignitz hinaus bekannt wurden: die „Echte Perleberger Glanzwichse", die besonders in den preußischen Garnisonen gern verwendet wurde und sogar 1879 auf der Weltausstellung in Sydney mit einer bronzenen Medaille prämiert wurde; und den „Perleberger Senf", den es noch heute zu kaufen gibt.
Auch kulturell wirkt Perleberg über die Grenzen Brandenburgs hinaus. Die Musik-Akademie bietet, neben einer Ausbildung für Gesangsprofis, Konzerte und Gesangswochen für jedermann und wurde nach Lotte Lehmann benannt. Die 1888 in Perleberg geborene Opernsängerin gehörte zu den herausragenden deutschen Sopranistinnen des 20. Jahrhunderts. Sie verweigerte das Angebot der Nazis, sich als Reichs-Opernsängerin in den NS-Kunstbetrieb einzureihen, emigrierte in die USA und wurde an der Metropolitan Opera in New York zum gefeierten Star.
Zum Abschluss des Bummels durch die Altstadt sollte man sich Erholung im Grünen gönnen, keinen Steinwurf von den Resten der Stadtmauer entfernt. Wie idyllisch nimmt sich doch ein Spaziergang entlang der Stepenitz aus, die den historischen Kern Perlebergs wie eine Insel umfließt. Mit viel Glück kann man dort Eisvögel beobachten, und auch eine Fahrt mit dem Paddelboot ist zu empfehlen. Vielleicht ist es gerade diese Dreifaltigkeit von Geschichte, Natur und Kultur, die Perleberg zu Recht als Perle der Prignitz ausweist.