Trotz Personalproblemen scheint die Tourismusbranche insgesamt recht zufrieden mit dem ersten Reisejahr nach den europaweiten Corona-Lockdowns. Das sagt Tourismus-Forscherin Prof. Anja Wollesen. Ein stärkeres Umweltbewusstsein habe sich jedoch nicht eingestellt.
Frau Prof. Wollesen, Chaos an Flughäfen, viele Tourismusbetriebe finden nicht mehr genügend Personal, ist das ein gutes erstes Jahr für die Branche nach den europäischen Lockdowns?
Durchaus, die Branche ist größtenteils sehr zufrieden mit der Entwicklung nach den beiden Corona-Jahren. Der Tourismus hat sich dieses Jahr dynamisch gesteigert, 2024 rechnet die Branche damit, die Zahlen von 2019 zu erreichen. Die Entwicklung an den Flughäfen rührt daher, dass während Corona die Mitarbeiterzahlen zurückgefahren wurden und jetzt nicht mehr erreicht werden können, weil diese andere Jobs gefunden haben. Das ist verständlich, da ein Großteil der Branche die Kurzarbeit-Möglichkeit nicht genutzt hat. Diejenigen, die es genutzt haben, konnten ihr Personal gut halten und müssen jetzt nicht aufwendig neues suchen. Das ist ärgerlich für die Reisenden, viele aber zeigen Verständnis dafür und lassen sich nicht vom Fliegen abschrecken. Denn die Menschen sind urlaubshungrig und versuchen daher, irgendwie das Urlaubsziel zu erreichen. Die Personalfrage zeigt aber auch eine gewisse Haltung gegenüber dem Personal: Sozial nachhaltig und fair war es sicher nicht, Mitarbeiter freizusetzen, wenngleich aus kurzfristig unternehmerischer Sicht sicher schon.
Die Branche ist zufrieden, sagen Sie, welchen Einfluss hat die derzeitige Inflation darauf?
Die Reisenden waren nach Corona bereit, mehr Geld für Hygiene, Sicherheit und Qualität auszugeben. Wir haben es derzeit jedoch nicht nur mit Corona-Folgen zu tun, sondern eben auch mit allen anderen Krisen, die uns beschäftigen. Momentan reisen die Menschen, so lange sie es können. Denn niemand weiß, wie die weltpolitische Lage oder auch die Corona-Lage sein wird, wir wissen nicht, wie stark uns der Krieg gegen die Ukraine noch beeinflussen wird. Die European Travel Commission geht jedoch davon aus, dass sich die hohe Inflation schon bald deutlich stärker auf die Nachfrage von Inlands- und Kurzstreckenreisen verlagern wird. Durch die steigenden Lebenshaltungskosten aufgrund der Preissteigerungen bei Energie und Lebensmitteln ist die Ersparnisbasis der Reisenden ausgehöhlt worden. Darüber hinaus verteuert der Anstieg der Kraftstoffpreise auch unmittelbar das Reisen. Es wird daher davon ausgegangen, dass der Preisanstieg bei den Verbrauchern zu einer Verschiebung der Präferenzen hin zu kostengünstigeren Optionen wie Ferienaufenthalten oder erschwinglicheren Transportmöglichkeiten in nahe gelegene Länder führen wird. Wir wissen aber auch, dass sich längst nicht jeder eine Reise leisten kann, der es gern möchte: Für viele Menschen ist es zu teuer, obwohl Deutschland nach wie vor zu den Reiseweltmeistern gehört.
Hat sich am Reiseverhalten etwas geändert? Während der vergangenen Corona-Jahre ging es mehr ins Inland.
Das ist richtig, unter anderem weil man ja nicht ins Ausland reisen konnte. Aber wir bemerken, dass die Reisenden wieder zu ihrem Vor-Corona-Verhalten beim Reisen zurückkehren. Ich bin Professorin für Tourismus und Nachhaltigkeit und sicher hatte nicht nur ich die leise Hoffnung, dass sich die Reisenden auch langfristig mehr auf Deutschland oder das nahe europäische Ausland konzentrieren, aber dies scheint – zumindest in diesem Sommer nicht der Fall zu sein. Laut einer Spezialumfrage der Reiseanalyse 2021 ist langfristig betrachtet durchaus ein Trend zu positiven Einstellungsänderungen der Deutschen in Bezug auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit bei Urlaubsreisen zu beobachten sowie auch ein gestiegenes Interesse an dem Thema in Deutschland während der Covid-19 Pandemie. Danach finden 60 Prozent das Thema Nachhaltigkeit wichtig, für etwa 25 Prozent ist es Teil der Reiseentscheidung, jedoch nur für vier Prozent der Befragten war Nachhaltigkeit ausschlaggebend für die Wahl eines Reisezieles oder Produktes.
Der Prozess der Veränderung durch das Krisenbewusstsein geht also langsam zurück, doch das Bewusstsein ist vorhanden. Auch dafür, dass durch Reisen auch negative Effekte ausgelöst werden können. Das können wir beobachten. Aber dass die Mehrheit der Reisenden nun darauf besonders achtet, Reiseziele an nachhaltigen Kriterien auszusuchen, sehen wir leider nicht. Eine höhere Relevanz hat das Thema Nachhaltigkeit laut derselben Umfrage bei den Inlandsurlaubern. Dort gab im Jahr 2020 jeder Zehnte und damit doppelt so viele wie 2018 an, dass Nachhaltigkeit den Ausschlag bei der Entscheidung gegeben hat. Vielleicht auch, weil es für Inlandsreisende leichter war, Informationen zu den nachhaltigen Reiseangeboten zu erhalten.
Das heißt, es hat sich kein „grünes Gewissen" in den beiden Jahren eingestellt, in denen wir kaum ins Ausland reisen konnten?
Nein. Die Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reise untersucht jährlich in einer Studie das Reiseverhalten. Was wir dadurch wissen ist, dass viele Gäste, die sich für Nachhaltigkeit bei ihren Reisen interessieren, gar nicht wissen, woher sie diese Informationen bekommen sollen. Das gilt sogar für Branchenvertreter. Hier müssen wir also mehr tun und für größere Transparenz sorgen. Es ist ja nicht so, dass jede Reise mit einem CO2-Fußabdruck versehen ist. Die Verbraucher möchten das jedoch zunehmend wissen. Nicht nur bei den Lebensmitteln. Wird dies transparent, kann ich mir vorstellen, dass immer mehr Menschen ihre Verbräuche auch beim Reisen eher berücksichtigen. Aber bislang weiß nur jene kleine Gruppe der bewusst nachhaltig Reisenden, dass es beispielsweise das „Forum Anders Reisen" gibt, dass es Plattformen von nachhaltigen Destinationen und zertifizierten Bio-Hotels gibt, dass es Reiseveranstalter gibt, die speziell nachhaltige Reisen anbieten.
Was heißt nachhaltig? Kompensiert durch Zahlungen an anderer Stelle?
Nein, nachhaltiges Reisen bedeutet, dass die komplette Leistungskette der Reise, von der An- bis zur Abreise nachhaltig umgesetzt ist. Nachhaltige Reiseveranstalter arbeiten beispielsweise nur mit entsprechend ausgezeichneten und zertifizierten Hotels zusammen. Es gibt inzwischen Hotels, die komplett klimaneutral agieren. Doch für viele Reisende sind diese Angebote noch schwer einzuschätzen, da es sehr viele verschiedene Auszeichnungen und Zertifizierungen mit unterschiedlichen Kriterien gibt. Für die Verbraucher fehlt hier die Transparenz, während wir im Lebensmittelbereich schon lange über eine Ampel oder ähnliche Auszeichnungen reden. Wenn ich immer wüsste, was ich an CO2 bei meinem Urlaub verursache, würde sich das Verhalten sicher schneller ändern. Man muss aber auch ehrlich sagen, dass nachhaltig häufig auch teurer heißt. Qualität, Nachhaltigkeit und Preis gehen Hand in Hand. Das können sich nicht alle leisten.
Wie plane ich denn meinen nachhaltigen Urlaub?
Nachhaltigkeit beginnt schon bei der Information vor der Anreise: Fliege nicht so weit, wenn du nur eine Woche Zeit hast, lautet hier eine Empfehlung. Wäre die Anreise mit der Bahn eine Alternative? Informiere dich über das Ziel, mögliche Zertifizierungen, und entscheide bewusst, welche Freizeitaktivitäten vertretbar sind. Gleitschirmfliegen im Vogelschutzgebiet ist sicherlich keine gute Idee. Aber dieses Informieren ist eben häufig noch sehr zeitaufwendig und schwierig. Alleine die Bahnverbindungen innerhalb Europas sind nicht synchronisiert – auch wenn es jetzt mehr Nachtzüge gibt –, die Informationen sind nicht komfortabel abrufbar. Deshalb und um die Hürden für nachhaltiges Reisen nicht so hoch zu setzen, brauchen wir unter anderem ein einfacheres Handling der Informationen, die ich für die Planung einer nachhaltigen Reise brauche.
Man kann den Eindruck gewinnen, junge Menschen entwickeln ein schlechtes Gewissen, weil sie reisen. Ihre Meinung dazu?
Das Bewusstsein für Nachhaltigkeit ist bei jungen Menschen extrem hoch. Dennoch empfehle ich ihnen zu reisen, wenn sie das können. Junge Menschen müssen die Welt sehen und erfahren können, um zu erkennen, warum die Welt schützenswert ist, wo sie sich durch den Klimawandel in welch dramatischer Weise ändert, sie müssen sich mit anderen Kulturen austauschen und echte Begegnungen mit diesen haben. Deshalb rate ich meinen Studierenden: Reist nicht ein Wochenende mit dem Flieger zum Shoppen nach New York, aber erkundet die Welt.