Eine Studie am Universitätsklinikum des Saarlandes über die gesundheitliche Entwicklung von Kindern während Corona bringt alarmierende Befunde hervor. Was man bei der nächsten Welle verbessern kann, erzählt Prof. Eva Möhler.

Noch eine Folge!" So ertönt es aus Kindermündern, wenn ein Teil der Lieblingsserie gerade zu Ende geht. Streaming-Angebote machen es auch für die Kleinen nicht leicht, bei spannenden Filmen und Serien ein Ende zu finden. Und was Eltern tun, ist für den Nachwuchs sowieso ein Vorbild. Binge Watching, also Dauerglotzen, hat sich als Begriff für exzessive Serienmarathons erst in den vergangenen Jahren etabliert. Eines ist sicher: Das Verhandeln zwischen Eltern und ihren Kindern um Bildschirmzeiten hat während der Lockdowns der letzten beiden Jahre nicht abgenommen –
eher wurde gar nicht mehr verhandelt. Der exzessive Anstieg des Medienkonsums drückt sich in der Verweildauer Jugendlicher am PC aus, die dazu genutzt wird, entweder zu zocken oder Content zu streamen. Im Suchtbereich spricht man von „Gaming Disorder".
Die Chefärztin des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik an der SHG Klinik, Prof. Dr. Eva Möhler, hat in ihrer Studie zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen eine Zunahme von Gaming Disorder während der Corona-Pandemie festgestellt. Vor dem Lockdown erfüllten acht Prozent aller männlichen Jugendlichen die Kriterien. In der Studie kam sie auf 23 Prozent aller Jugendlichen, die eine Medienabhängigkeit aufwiesen. Auch die vorausgehende Copsy-Längsschnittstudie untersucht die Auswirkungen und Folgen der Covid-19-Pandemie auf die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland. Sie bestätigt den Befund, dass dieses von der WHO als Sucht eingestufte Verhalten zu Übergewicht, Konzentrationsschwierigkeiten, Verhaltensstörungen, Bewegungsmangel und schulischen Leistungsstörungen führt.
Wegfallen von Sicherheit
„Der Effekt, den wir beobachten ist, dass es jetzt, nach dem Lockdown wieder alle möglichen Angebote zur Bewegung und sozialer Interaktion gibt, diese aber nicht angenommen werden. Das Zocken und das Kleben hinter dem Bildschirm haben sich als Sucht etabliert", so Eva Möhler zum Suchtverhalten Jugendlicher im Hier und Jetzt.
Gerade das durch die Pandemie verursachte Ausbleiben von Regelhaftigkeit bedeute für Kinder und Jugendliche ein Wegfallen von Sicherheit. „Kinder brauchen in einem größeren Maße Überschaubarkeit, in der Art, dass Dinge in einer gewissen Voraussagbarkeit ablaufen. Wenn diese Regelhaftigkeit wegfällt, dann erfahren Heranwachsende ungleich mehr Stress als Erwachsene. Dazu kommt eine Anfälligkeit, die Schuld für aus dem Ruder laufende Entwicklungen auf sich zu nehmen. Wenn es Erwachsenen im Umfeld schlechter geht, besteht eine Tendenz von Kindern, dies auf sich zu beziehen", gibt Professorin Möhler zu verstehen. Und den Erwachsenen ging es während des Lockdowns vergleichbar schlechter.

Dass das Heranwachsen generell eine stressige Zeit für Teenager ist, weiß nicht nur jedes Kind. Die Zeitspanne hin zum Erwachsenenalter bedeutet eine sensible und vulnerable Entwicklungs- und neuronale Reifungsphase, in der viele zu bewältigende Entwicklungsaufgaben vom Heranwachsenden geleistet werden müssen. Hinsichtlich der Entfaltung sozialer und psychischer Konsequenzen verstreichen neurobiologisch wichtige Zeitfenster an Möglichkeiten (Window of opportunity). Und diese können im Nachhinein auch nur bedingt oder zumindest schlechter geschlossen werden. Ausgehend von einer möglichen Beeinflussung des Ungeborenen, das während des Lockdowns einer Reizdeprivation schon im Mutterleib ausgesetzt ist, weil die Mutter eventuell nicht mehr nach draußen geht und das Kind so keine Stimulation wahrnimmt, wird klar, dass die Zeitfenster viele sind, die während der Corona-Pandemie ungenutzt zufielen. „Das Gehirn ist umso plastischer, je jünger Kinder sind, das heißt Windows of opportunitys gibt es gehäuft in der frühen Kindheit, aber generell über die gesamte Entwicklungsphase hinweg. Das zweite bis dritte Lebensjahr ist zum Beispiel für die Spracherkennung enorm wichtig. Es wird sich zeigen, was es mit den Kindern gemacht hat, dass sie Sprache vermehrt durch Masken wahrgenommen haben, also in einer gedämpften Art. Die Gesichtsererkennung entwickelt sich in der zweiten Hälfte des ersten Lebensjahres, die natürlich ebenfalls durch das Tragen von Masken beeinflusst wird", gibt Eva Möhler zu bedenken.
Aggression und Impulsivität
Die Stressoren, das heißt die zu Stress führenden Auslöser, gibt es von Geburt an. Der sogenannte Early Life Stress (ELS) sorgt für die Aktivierung der Cortisol-Ausschüttung. Cortisol ist das wichtigste Stresshormon, das bei psychischem oder physischem Stress ausgeschüttet wird. Es hat wegen seiner herausragenden Bedeutung für die Anpassung an jede Form von Belastung (Stressreaktion) ein enorm breites Wirkungsspektrum. Stressreize wie psychische Anspannung, körperliche Aktivität oder auch Infektionen aktivieren die neuroendokrine Stressachse (Hypothalamus-Hypophysen-Nebennierenrinden-Achse: HHN-Achse). Über die Ausschüttung von Cortisol steigert die Stressachse Herzfrequenz und Blutdruck, mobilisiert Energieressourcen und ermöglicht so eine adäquate Reaktion auf die aktuellen Umweltbedingungen. Wissenschaftler der amerikanischen Universität Wisconsin-Madison wiesen bereits vor Jahren nach, dass bei Kindern, die in den ersten Lebensmonaten erhöhtem Stress ausgesetzt waren, der Cortisolspiegel stark angestiegen war. Der Dauerbeschuss durch das Stresshormon beeinflusst die Informationsverarbeitung des Gehirns.
In der Studie von Eva Möhler am Universitätsklinikum des Saarlandes wurden 1.516 Jugendliche zwischen zehn und 17 Jahren und 940 dazugehörige Eltern befragt. Der Erhebungszeitraum erstreckte sich von Juli bis September 2021. Die Instrumente waren die der Copsy-Studie, unter anderem der sogenannte Strengths and Difficulties Questionnaire, also ein Fragebogen zu den Stärken und Schwierigkeiten von Kindern, mit deren Beantwortung klinisch relevante Werte erhoben werden können. Vor Corona lagen nach der Kindergesundheitsstudie von 2018 bei 16,9 Prozent klinisch relevante Werte vor, während der Pandemie stiegen diese laut Copsy-Studie auf 34 Prozent der Befragten. Das Ergebnis der Studie am Universitätsklinikum des Saarlandes lag bei 18,7 Prozent. Des Weiteren kommen alarmierende Werte aus einer Forschung der Kinder- und Jugendpsychiatrie Homburg mit den Universitätskliniken Köln, München und Aachen. Dort wurde neben der erheblichen Zunahme von Konzentrationsproblemen auch ein enormer Anstieg von externalisierenden Symptomen wie Aggression und Impulsivität festgestellt: ein Plus von 20 Prozent im Vergleich zur sogenannten Bella-Studie, welche im Rahmen der Bundesgesundheitsberichterstattung am Robert Koch-Institut durchgeführt wird.
Hilfsprogramme entwickelt

Der relative Kontrollverlust, den Jugendliche während der Pandemie wahrgenommen haben, resultiert nicht nur in einer Verschlechterung beim Unterdrücken impulsiver Ausbrüche. Psychische Erkrankungen wie Depressionen und Essstörungen haben während des ersten und zweiten Lockdowns erheblich zugenommen, „nicht weil die Zeit mit Instagram mehr wurde, sondern weil der Gedanke von Kontrollgewinn durch Gewichtsabnahme eine einfache Gleichung für Jugendliche ist", so Eva Möhler. Durch den Wegfall von sportlichen Aktivitäten, Schulunterricht, generell sozialen Interaktionsmöglichkeiten mit der Peergroup im Lockdown, sind Kinder und Jugendliche unterschiedlich stark gefährdet, am meisten jedoch die aus prekären Verhältnissen, überdurchschnittlich solche mit Migrationshintergrund. Aber auch überbehütende Mütter wie Väter können in ihrer Aufgeregtheit, alles richtig tun zu wollen, Schaden anrichten. Eva Möhler weist auf die Schwierigkeiten moderner Erziehung hin und kann mit Labeln wie Helikopter- oder Rasenmäher-Eltern wenig anfangen: „Generell haben Eltern immer einen Grund das zu tun, was sie tun, und wenn zum Beispiel von der Mutterseite eine seelische Belastungsstörung vorliegt, dann gilt es, diese ebenfalls zu behandeln und nicht abzuurteilen. Die gute Nachricht ist: Wir haben Hilfsprogramme dazu entwickelt, wie sich Eltern auch während eines Lockdowns besser gegenüber ihren Kindern verhalten können. Es gibt auch Video-Interaktions-Therapien, in denen unser speziell geschultes Team mit den Eltern zusammen Interaktionen erarbeitet, die hilfreich im Umgang mit den Heranwachsenden sind. Alle Eltern haben Kompetenzen, sie wollen im Grunde alles gut machen. Wir wecken mit unserem Angebot jene Fertigkeiten, wenn sie verlernt wurden. Es ist aber auch eine verdammt schwierige Aufgabe, heutzutage Eltern zu sein. Bin ich nun Helikopter-Mutter, weil ich über die Länge des Chats meines Sohnes oder meiner Tochter rumnörgele?" Ein permanentes Dilemma, denn die Medien sind da, um zu bleiben, und die Dosis macht das Gift.
Solange es keinen Führerschein für Eltern gibt, können trotz der Flut an Ratgebern und enormer Vernetztheit Ausnahmezustände wie die Corona-Pandemie nur durch Dazulernen gemeistert werden. Das Download-Material und Veranstaltungen zu Themen rund um einen besseren Umgang mit Jugendlichen und Kindern während der Pandemie findet man unter www.startyourway.de.