Die Pandemie wirbelte den Alltag junger Menschen durcheinander. Während sich Bewegungsverhalten und Medienkonsum änderte, verstärkten sich bisherige Probleme wie Übergewichtigkeit. Prof. Dr. Alexander Woll spricht darüber, welche Ergebnisse zentral sind und wie Politik und Gesellschaft handeln sollten.

Herr Prof. Woll, Sie sind Leiter des Instituts für Sport und Sportwissenschaft am Karlsruher Institut für Technologie (KIT) und Verbundleiter der Motorik-Modul-Studie, deren Ergebnisse Sie vor Kurzem in Saarbrücken bei einem Vortrag präsentiert haben. Wie ist es zur Studie gekommen?
Die Motorik-Modul-Studie ist vor fast 20 Jahren gestartet. Wir untersuchen alle fünf Jahre die körperliche Fitness und das Aktivitätsverhalten aller Kinder und Jugendlichen in Deutschland. Als ein Teil der „KIGGS-Studie" (Studie zur Gesundheit von Kindern und Jugendlichen in Deutschland; Anm. d. Red.) des Robert Koch-Instituts vertiefen wir die Themen motorische Entwicklung und körperliche Aktivität. Wir befanden uns direkt vor der Corona-Pandemie in der Welle drei, also in unserem vierten Untersuchungszeitraum. Zu diesem Zeitpunkt wurden rund 2.850 Kinder und Jugendliche untersucht. Corona hat dafür gesorgt, dass die Präsenzuntersuchungen, bei denen wir junge Menschen an 167 Orten in der ganzen Republik testeten, nicht mehr möglich waren. Für uns stellte sich die Frage, wie wir darauf reagieren. Uns kam die Idee zu untersuchen, wie sich Corona auf dieses Aktivitätsverhalten und den Gesundheitszustand auswirkt. Dazu befragten wir jene Kinder und Jugendlichen aus Welle drei online, die wir zuvor untersucht hatten und zu denen uns Untersuchungsdaten aus der Zeit unmittelbar vor der Pandemie vorlagen. Nach meinem Kenntnisstand ist das weltweit die einzige Studie, die direkt vor der Corona-Pandemie eine Messung durchgeführt hat und die gleichen Probandinnen und Probanden ein halbes Jahr beziehungsweise ein Jahr später noch einmal untersucht hat.
Was genau meint Welle drei und vierter Untersuchungszeitraum?
Bisher gab es eine „MoMo-Baseline"-Studie, die den Zeitraum von 2003 bis 2006 abdeckt. Von 2009 bis 2012 lief die erste, von 2014 bis 2018 die zweite Untersuchungs-Welle, und 2018 sind wir in die dritte Welle gestartet, wobei wir wegen Corona unterbrechen mussten. Die Probandinnen und Probanden aus der dritten Welle haben wir uns genauer angeschaut. Das Besondere am Design der Studie ist, dass sie eine Längsschnittbetrachtung und mehrere Querschnittsbetrachtungen vereint. Mit der Studie lassen sich nicht nur historische Abschnitte nachbilden – beispielsweise gab es bei der Baseline (2003) kaum digitale Endgeräte in den deutschen Kinderzimmern, 2022 sieht die digitale Entwicklung ganz anders aus – und Aussagen darüber treffen, inwieweit diese die Kindheits- und Jugendphase geprägt hat. Auf der anderen Seite können wir die Stabilität von Eigenschaften in der Gruppe der Vier- bis 17-Jährigen nachverfolgen. Zum Beispiel untersuchen wir in der Längsschnittbetrachtung, wie stabil zum Beispiel die Kraftfähigkeit oder Übergewicht in der Phase des Älterwerdens von jungen Menschen und Erwachsenen bleibt. Wie entwickeln sich die Vier- bis 17-Jährigen von 2003 über einen Zeitraum von fast 20 Jahren? Sind fittere Kinder auch fittere Erwachsene? In der Querschnittsbetrachtung wurden hingegen repräsentativ die Kohorten der Vier- bis 17-Jährigen miteinander verglichen. Hier lautet die Frage: Sind Kinder im Jahr 2020 fitter als Kinder im Jahr 2002?
Was sind die zentralen Erkenntnisse der jüngsten MoMo-Corona-Studie?
Die MoMo-Corona-Studie hat gezeigt, dass man genau hinschauen muss, welcher Zusammenhang zwischen körperlicher Aktivität und Corona besteht. Im ersten Lockdown hat sich herauskristallisiert, dass die Bewegungszeiten viel höher waren als vorher. Insofern hat uns das Ergebnis des ersten Lockdowns völlig überrascht. Damit sind drei wesentliche Aspekte verbunden. Erstens war in dieser Phase das Wetter optimal, um draußen körperlich aktiv zu sein. Der zweite Gesichtspunkt ist die Tatsache, dass Homeschooling zuerst nicht richtig funktioniert hat. Da Kinder zu Hause waren, hatten sie mehr Zeit zur Verfügung, die sie auch für mehr Bewegung nutzten, zumal auch andere Freizeitmöglichkeiten eingeschränkt waren. Drittens stand auch Eltern im ersten Lockdown ein höheres Zeitbudget zur Verfügung. Daher ergab sich die paradoxe Situation, dass der erste Lockdown das Bewegungsverhalten von Kinder und Jugendlichen sogar noch alltagsnah gefördert hat. Das heißt junge Menschen haben mehr Zeit mit Outdoor-Aktivitäten wie Fahrradfahren oder Spaziergängen im Wald verbracht. Die sportlichen Aktivitäten im Verein und der Schulsport fielen in der Zeit des Lockdowns völlig weg. Zusammengefasst lässt sich sagen, dass es eine qualitative Veränderung im ersten Lockdown gegeben hat. Eine ganz andere Entwicklung sahen wir im zweiten Lockdown. Die körperliche Aktivität ist auf das niedrigste Niveau gefallen, das wir jemals in den letzten 20 Jahren gemessen haben. Das gilt insbesondere für die Alltagsaktivität, die sehr stark zurückgegangen ist.
Hängt diese Entwicklung mit der Jahreszeit zusammen?
Das hat sicherlich einen Einfluss. Zum Beispiel spielten junge Leute weniger im Freien. Aufgrund unserer Vergleichsdaten aus den vorangegangenen Wellen können wir die Daten auch jahreszeitlich bereinigen. Wir haben uns auch vergleichbare Zeiträume angesehen, wo wir die Kinder zu einem früheren Zeitpunkt befragten. Auch dann bleibt dieser Effekt erhalten. Wir sehen, dass es einen starken Einbruch im Bewegungsverhalten gegeben hat. Das Niveau lag deutlich unter dem der Vor-Corona-Zeit.

Gibt es weitere Ergebnisse?
Schon vor der Pandemie waren nicht alle Kinder und Jugendlichen gleich. Wir haben große Unterschiede zwischen Stadt und Land festgestellt. Soziale, vor Corona bestehende Unterschiede wurden durch die Pandemie verstärkt. Übergewichtige Kinder und Jugendliche haben in der Pandemie mehr zugenommen. Insgesamt hat ein Drittel der Befragten angegeben, dass sie an Gewicht zunehmen. In der Gruppe der übergewichtigen Kinder haben 70 Prozent zugenommen. Die Risikokonstellationen haben sich verschärft, und zudem sind bei Kindern vermehrt psychische Auffälligkeiten aufgetreten. Die selbst wahrgenommene Fitness hat immerhin bei der Hälfte der Kinder und Jugendlichen abgenommen. An dieser Stelle muss man aber die Daten leicht relativieren. Unsere Studie zeigt unter anderem, dass hinsichtlich der Motorik, unter anderem Ausdauer und Koordination, Kinder im Alter von zehn Jahren zwischen sechs und zwölf Monaten in ihrer normalen Entwicklung zurückliegen. Wenn wir die kognitiven Fächer betrachten, gehen wir in der Mathematik von einem Rückstand zwischen vier und zehn Wochen aus.
Welche Auswirkungen hatte das Aufwachsen und Leben in Großstädten und im eher ländlich geprägteren Raum auf Kinder und Jugendliche während des ersten und zweiten Lockdowns?
Wir haben viele Faktoren bei der Berechnung von Unterschieden im Aktivitätsverhalten miteinbezogen. Interessanterweise war der wichtigste Faktor der Zugang zu einem Garten. Das macht deutlich, dass die Stadt- und Raumplaner zukünftig darauf achten sollten, dass Kinder und Jugendliche die vorhandenen Freiflächen auch tatsächlich nutzen können. Es gibt eine schöne Studie, die unter anderem zeigt, dass mit jedem Stockwerk in einem Hochhaus, das sich in einem sozialen Brennpunkt befindet, das Aktivitätsverhalten der Kinder abnimmt. Die Wohnsituation und der Zugang zu Frei- und Grünflächen – also etwa Gärten, Parks und Naherholungsgebiete – sind entscheidende Punkte.
Überdies hat sich in der Pandemiezeit die Bildschirmzeit kontinuierlich erhöht. In der Regel wird für Grundschulkinder pro Tag maximal 60 Minuten Medienzeit empfohlen. Im zweiten Lockdown lag die Bildschirmzeit zur Freizeitnutzung von Mädchen und Jungen im Grundschulalter bei im Durchschnitt über 200 Minuten. Damit ist die empfohlene Mediennutzungszeit um mehr als das Dreifache gestiegen. Dazu kam im zweiten Lockdown das Homeschooling, wobei die Kinder unheimlich viel vorm Rechner saßen.
Konnten Sie eine eindeutige Korrelation zwischen der Zunahme der Medienzeit und der Abnahme von körperlicher Bewegung feststellen?
Es gab keine einfache Korrelation, das heißt je mehr Bildschirmzeit, desto weniger Aktivität. Dies bezeichne ich als die Verdrängungshypothese, die aber so nicht eingetreten ist. Erst wenn junge Menschen auf einen täglichen Medienkonsum von vier bis fünf Stunden kommen, ist festzustellen, dass in der Freizeit das Aktivitätsverhalten zurückgeht. Wenn junge Menschen drei bis vier Stunden vor dem Bildschirm verbringen und das Aktivitätsverhalten unverändert bleibt, ist dennoch die Frage: Auf welche Kosten geht der Medienkonsum? Interessanterweise zeigt unsere Studie, dass es eher in Richtung leichtere Aktivitäten und vor allem zulasten des Schlafs geht. Hingegen merkt man erst bei einem relativ hohen Medienkonsum, dass die körperliche Aktivität sinkt.
Wie sollte eine umfangreiche und vielseitige Bewegungsförderung junger Menschen aussehen, um beispielsweise psychischen Auffälligkeiten und Adipositas vorzubeugen?
Dafür sind zuallererst Expertinnen und Experten gefragt. Zudem braucht es qualifizierte Übungsleiterinnen und Übungsleiter in den Vereinen. Weiter bedarf es entsprechender Qualifikationen für Erzieherinnen und Erzieher. Vor allem ist im Moment ein heißes Thema, dass an vielen Grundschulen fachfremd Sport unterrichtet wird. In Baden-Württemberg beispielsweise wird die Hälfte des Sportunterrichts fachfremd, also von anderen Lehrkräften, unterrichtet. Daher braucht es hier dringend eine Qualitätsoffensive für das gesamte Bildungssystem.
Ein anderer Aspekt ist der, dass genügend Räumlichkeiten zur Verfügung gestellt werden müssen. Wir haben in der Pandemie gesehen, dass wohnortnahe Bewegungsräume sehr wichtig sind. Das muss in der Stadtplanung berücksichtigt werden und auf Ebene der Kommunalpolitik möglichst breit betrachtet werden. Wir brauchen als Ergänzung zum Sportunterricht digitale Bewegungsangebote mit einer gewissen Qualität. Außerdem ist die Frage, wie gute Bewegungsförderung umgesetzt werden kann. Das kann aber nur gelingen mit qualifiziertem Personal, entsprechenden Räumlichkeiten und einer täglichen Sportstunde im Grundschulbereich.
Das heißt die Einführung einer vierten beziehungsweise fünften Sportstunde halten Sie für angebracht?
Ich halte das generell für angebracht. Aus vielen Studien wissen wir, dass es für die motorisch-gesundheitliche, aber auch die kognitive Förderung von Kindern und Jugendlichen optimal wäre, wenn es gerade an den Grundschulen eine tägliche qualifizierte Sportstunde gäbe. Wir haben da kein Erkenntnis-, sondern ein Umsetzungsproblem. Natürlich rücken jetzt ganz andere Themen wie die Digitalisierung in den Vordergrund. Wir dürfen dabei eins nicht vergessen: Das Kind muss ganzheitlich gefördert werden, nicht nur der kognitive Bereich, sondern auch die Motorik. Um auf die Folgen der Digitalisierung an Schulen und der Alltagswelt angemessen zu reagieren, müsste mit qualifiziertem Sportunterricht und bewegungsfreundlichen Schulen gegengesteuert werden.
Ein Ergebnis der MoMo-Corona-Studie ist, dass drei Viertel der Sechs-bis 17-Jährigen nicht die WHO-Bewegungsempfehlung, also mindestens 60 Minuten täglich mäßige bis sehr anstrengende körperliche Aktivität erfüllt. Wie kann man diese jungen Menschen erreichen und motivieren?

Alle Kinder und Jugendlichen können nur in Kitas, Grundschulen und weiterführenden Schulen mit gezielter Bewegungsförderung, qualifizierter täglicher Sportstunde und ergänzenden Betreuungsangeboten von Vereinen erreicht werden. Sobald man versucht, dieses Ziel nur im freiwilligen Bereich oder im Vereinssport zu erreichen, geschieht dies über eine soziale Selektion. Aber gerade das wollen wir nicht. Auch die sozialen Risikogruppen müssen wir in den Bildungsinstitutionen ansprechen.
Wie sollten Politik und Gesellschaft auf die Herausforderungen in puncto Bewegungsverhalten von Kindern und Jugendlichen angemessen reagieren?
Wir brauchen vom Bund einen breit angelegten Bewegungspakt, der sich allerdings nicht in der Förderung des Vereinssports erschöpfen sollte. Dieser Pakt sollte alle formalen Bildungsinstitutionen einschließen – Kindergarten, Schulen und Hochschulen. Auf der anderen Seite sind die Länder, die vor allem für die Personalausstattung der Kitas und Schulen zuständig sind, gefordert. In der Lehrer- und Erzieherausbildung sollten die Themen Motorik und Gesundheit ganz oben auf der Agenda stehen. Durch die Änderung der Stundentafel sollte an Grundschulen ein täglicher qualifizierter Sportunterricht ermöglicht werden. Die kommunale Ebene muss Bewegungsräume und Infrastruktur zur Verfügung stellen und Schulen als Schulträger die Möglichkeit zur Schaffung von echten Bewegungsräumen geben. Es wäre auch schön, wenn hierbei die Eltern miteinbezogen werden.