In den kommenden acht Jahren könnte die Zahl der Bewohner von Pflegeheimen auf 6,1 Millionen steigen. Probleme sind schon jetzt rasant steigende Kosten zu Ungunsten von Pflegebedürftigen und Kommunen.
In zweieinhalb Wochen ist es soweit. Denn ab 1. September müssen bundesweit alle Pflege- und Betreuungskräfte an einen Durchschnittstarifwert angelehnt bezahlt werden – auch wenn sie bei Einrichtungen und Diensten arbeiten, die keinen Tarifvertrag abgeschlossen haben. „Pflege nimmt in unserer alternden Gesellschaft eine sehr wichtige Funktion ein und muss besser bezahlt werden, das ist ganz klar", sagte Berlins Gesundheitssenatorin Ulrike Gothe.
Doch es gibt auch eine Kehrseite der Medaille. So warnte Thomas Greiner, Präsident des Arbeitgeberverbands Pflege (AGVP), neulich in Berlin vor einer „Kostenlawine", die auf die Altenpflege zurolle. „Irgendjemand muss das bezahlen", so der AGVP-Präsident. Wenn nichts passiere, blieben diese Kosten an den Pflegebedürftigen, ihren Familien und den Kommunen hängen. Ihnen drohe ein „Kosten-Tsunami", wenn die Regierung nicht gegensteuere. „Die Kostensteigerungen können sich für die Pflegebedürftigen und ihre Familien auf 600 bis 1.000 Euro summieren –
pro Monat. Das belastet eine Familie wie eine zweite Miete", rechnete Thomas Greiner vor. Schon jetzt seien 30 Prozent der Bewohner von Altenheimen Sozialhilfeempfänger. „Der Umzug ins Pflegeheim macht heutzutage arm", sagte denn auch Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK. Der Zuschuss zu den pflegebedingten Kosten bringe gerade bei kurzer Heimaufenthaltsdauer keine Entlastung. Von Jahr zu Jahr werde dieser Zuschuss für die Pflegeversicherung teurer, ohne dass es einen positiven Effekt für die Pflegebedürftigen gebe. „Die Kosten steigen überall, und so verpufft der Erfolg der letzten Pflegereform." Auch die ambulant Gepflegten fühlten sich im Stich gelassen. „Seit 2017 ist das Pflegegeld nicht mehr angepasst worden", kritisiert Bentele. Bei den Zuzahlungen im Heim gibt es noch ein beträchtliches Ost-West-Gefälle. So waren nach einer Auswertung der dpa zum 1. Juli Heimplätze in Baden-Württemberg mit durchschnittlich 2.619 Euro im Monat am teuersten; am wenigsten kosteten sie in Sachsen-Anhalt mit 1.700 Euro.

Im Freistaat Bayern ist man derzeit wegen der ambulanten Pflegeversorgung in großer Anspannung. Laut einer dpa-Meldung sieht der Arbeitskreis privater Pflegevereinigungen die ambulante Versorgung in dem Bundesland aufgrund der stark gestiegenen Kosten als gefährdet an. „Die Pflege- und Krankenkassen in Bayern weigern sich, die enorm gestiegenen Energie- und Betriebskosten für ambulante Pflegedienste zu finanzieren", teilten die sechs im Arbeitskreis zusammengeschlossenen bayerischen Verbände gemeinsam mit. Dadurch könne die pflegerische Versorgung vielerorts zum Erliegen kommen. „Die explodierenden Benzinpreise und die hohe Inflationsrate haben zu einer dramatischen Sachkostensteigerung von circa 14 Prozent geführt. Das ist mit den derzeitigen Vergütungen nicht refinanzierbar", erläuterte Kai Kasri, Landesvorsitzender des Bundesverbandes privater Anbieter sozialer Dienste. Im Gegensatz zu vielen anderen Bundesländern lehnten die Kassen in Bayern Verhandlungen über eine Refinanzierung aber ab, sagte der Nachrichtenagentur zufolge Stefanie Renner vom Berufsverband für Pflegeberufe DBfK Südost.
AGVP-Chef Thomas Greiner forderte von der Politik ganz konkret einen Inflationszuschuss von 25 Prozent für die gestiegenen Sachkosten wie Unterkunft und Verpflegung. Ein sofortiger Inflationszuschuss entlaste nicht nur die Unternehmen, sondern vor allem die Pflegebedürftigen, die damit vor einem Abrutschen in die Sozialhilfe bewahrt werden könnten. Derzeit stünden Heimbewohnern sechs Euro für die tägliche Verpflegung zur Verfügung. „Die Arbeitgeber der Altenpflege waren pragmatisch und kompromissbereit bei Mindestlohn und Tarifpflicht", sagte Greiner. Jetzt werde derselbe Pragmatismus von der Bundesregierung erwartet, wenn es um die Finanzierung der politisch verursachten Kosten in der Altenpflege gehe.
„Karl Lauterbach muss auch ein Pflegeminister sein!"
Scharfe Kritik übte Thomas Greiner an der bisherigen Politik des Bundesgesundheitsministers. „Karl Lauterbach ist nicht nur ein Corona-Minister, er muss auch ein Pflegeminister sein", sagte Greiner. „Im ersten Jahr der Legislaturperiode hat das Thema Pflege nicht stattgefunden", monierte er. Nicht einmal das, was im Koalitionsvertrag stehe, sei umgesetzt worden.
Die Zahl der Pflegebedürftigen in Deutschland, die laut Angaben des statistischen Bundesamts bei 4,1 Millionen liege, steige dennoch schneller an als die Zahl der Pflegekräfte. Nach Angaben des Verbandes könne sie bis 2030 auf 6,1 Millionen Menschen wachsen. Wegen der stetig steigenden Zahl der Pflegebedürftigen warnte Greiner vor den Folgen des Fachkräftemangels in der Altenpflege: „Wenn wir bei der Personalfrage keine Lösungen finden, dann ist die Versorgungssicherheit in der Altenpflege gefährdet." Dabei ist der Beruf aus Greiners Sicht hochinteressant für die Beschäftigten: Die Ausbildungs- und Beschäftigtenzahlen in der Altenpflege hätten sich positiv entwickelt. „Wir sollten endlich aufhören, den Eindruck zu erwecken, als ob der Altenpflege massenhaft die Leute wegrennen." Der Beruf sei attraktiv für junge Menschen, die sich für eine helfende Tätigkeit entscheiden und die für jene da sein wollten, die Hilfe benötigen, beschrieb Greiner die Branche. Auch die Ausbildungsvergütung gehöre zur Spitze in Deutschland. „Es ist unser Glück, dass viele Menschen in der Altenpflege arbeiten wollen". Schwierig ist die Differenz zwischen der Zahl der Pflegebedürftigen und der der Beschäftigten. Dieses Problem werde man nicht mit höheren Löhnen lösen: „Wenn keine Fische im See sind, nützt der beste Köder nichts." Greiners Vorschlag ist, die Organisation der Arbeit in den Pflegeheimen anzupassen: „Wir können es uns nicht erlauben, dass qualifizierte Pflegefachkräfte klassische Zivi-Jobs machen. Sie sollten sich auf fachliche Tätigkeiten, wie die medizinische Behandlungspflege, konzentrieren können, für die sie ausgebildet sind. Das setzt voraus, dass andere die Arbeit übernehmen, für die die qualifizierten Fachkräfte keine Zeit haben."
Auch die Zuwanderung von Pflegekräften ist ein wichtiges Thema in puncto Personalverstärkung. „Menschen in aller Welt sitzen auf gepackten Koffern, um in Deutschland hochbetagte Menschen zu pflegen", sagte Greiner. Aber der Weg nach Deutschland sei beschwerlich und mit Formularen und Behördengängen verbarrikadiert. Das müsse sich ändern. „Das beschleunigte Verfahren hat sich als lahme Ente entpuppt", sagt denn auch Isabelle Halletz, Geschäftsführerin des Verbandes. Und nennt ein Negativbeispiel aus Bayern: Dort habe es ein Verfahren gegeben, das auch nach 24 Monaten nicht bearbeitet worden sei. Wir brauchen Behörden, die Hand in Hand arbeiten, damit wir die Pflegekräfte auch schnell in Deutschland einsetzen können", erklärt er. Der Arbeitgeberverband fordere deshalb einen baldigen Pflegegipfel, bei dem schnelle Lösungen für die Branche besprochen werden. Die „Dramatik" der Situation erkenne diese Bundesregierung nicht.