Russland führt in der Ukraine einen Zermürbungskrieg – mit allen Mitteln
Im Ukraine-Krieg ist tödliche Routine eingekehrt. Die Kämpfe sind unverändert intensiv, aber weder Russen noch Ukrainer erzielen einen entscheidenden Durchbruch. Gespräche über eine Waffenruhe oder gar eine politische Annäherung scheinen Lichtjahre entfernt.
Einziger Hoffnungsschimmer: Die ersten Getreideschiffe haben die ukrainischen Häfen nahe Odessa verlassen. Ein Entspannungssignal für Afrika, Lateinamerika und Asien. Dort werden Weizen, Mais und Sonnenblumenkerne dringend gebraucht, um eine Hunger-Katastrophe zu vermeiden.
Russlands Präsident Wladimir Putin ist allerdings nicht über Nacht zum barmherzigen Samariter geworden. Er winkte die Schiffe aus zwei Grünen durch. Erstens will er in der Dritten Welt nicht als der große Verweigerer von Nahrungsmittel-Lieferungen dastehen. Die Rolle des Buhmanns soll der Westen einnehmen. Das Putin-Narrativ: Vor allem die USA und Europa haben den Ukraine-Krieg durch Waffenlieferungen angeheizt und die Inflationsrate weltweit nach oben getrieben. Zweitens baut Putin auf eine „Paketlösung". Die sieht so aus, dass westliche Sanktionen gegen Agrarerzeugnisse aus Russland fallen sollen, sobald die Ukraine wieder Getreide exportieren kann.
Auf dem Schlachtfeld gibt es zumindest regional Bewegung. Im Donbass haben die Russen ihr Kriegsziel zu weiten Teilen erreicht: 100 Prozent des Gebiets Luhansk sind unter der Kontrolle Moskaus oder der prorussischen Rebellen. Im Bezirk Donezk sind es 55 bis 60 Prozent. Erheblich mehr als vor der Invasion am 24. Februar.
Dagegen haben die ukrainischen Kräfte im Süden des Landes Fortschritte erreicht. Mit US-Mehrfachraketenwerfern vom Typ Himars, die eine Reichweite von 80 Kilometern aufweisen, konnten die Ukrainer bis weit hinter die russischen Nachschublinien zielen. Auf diese Weise zerstörten sie Munitionsdepots, Luftabwehrstellungen und Kommandozentralen. Die Züge, die den Russen neues Kriegsgerät und Personal liefern, müssen nun weit von der Frontlinie entfernt operieren.
Daher verlegen die Russen nun in großer Zahl Truppen aus dem Donbass in die Region Cherson im Süden. Die Rede ist von mehr als 20 taktischen Bataillonsgruppen – von denen eine im Schnitt 800 Soldaten umfasst. „Mit der massiven Truppenentsendung in den Süden konnten die Russen die Vorteile der Ukraine durch die Himars-Mehrfachraketenwerfer ausgleichen", sagt András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) in Berlin.
Den Ukrainern läuft noch aus einem anderen Grund die Zeit davon. Der Kreml bereitet sich unter Hochdruck darauf vor, im Distrikt Cherson am 11. September ein sogenanntes Referendum zum Anschluss an Russland abzuhalten. An diesem Tag finden in ganz Russland Regionalwahlen statt. Der Kreml strebt eine Wiederholung des Krim-Szenarios vom Frühjahr 2014 an. Auch wenn diese Abstimmung illegal wäre und international nicht anerkannt würde: Der Versuch der Ukraine, das Gebiet zurückzubekommen, würde politisch sehr viel komplizierter werden.
Parallel dazu befeuert Moskau die im Westen verbreitete Angst vor einer nuklearen Katastrophe. Nach Angaben des Ministeriums für Kultur und Informationspolitik in Kiew haben russische Truppen Energieeinheiten des Atomkraftwerks Saporischschja mit Sprengstoff verkabelt und vermint. Der Reaktor im Süden wurde kurz nach Kriegsbeginn von den Russen besetzt. Er ist die größte Nuklearanlage in Europa. Durch die Raketenangriffe vor rund einer Woche wurden einige der automatischen Überwachungs-Sensoren beschädigt. Diese Sensoren messen die radioaktive Strahlung und senden die Daten an lokale Behörden und die Internationale Atomenergie-Organisation (IAEO).
Russen und Ukrainer beschuldigen sich gegenseitig, das Kernkraftwerk beschossen zu haben. Objektive Beweise, die den Urheber der Attacken zweifelsfrei festmachen, liegen zwar nicht vor. Doch Mitarbeiter der russischen Atomenergiebehörde Rosatom sollen vor den Angriffen den Reaktor Saporischschja verlassen haben – ein Indiz, dass sie von den kommenden Attacken wussten.
Immerhin bescheinigt das Bundesamt für Strahlenschutz, dass durch die Kampfhandlungen keine Radioaktivität freigesetzt worden sei. Aber die Vorgänge um Saporischschja zeigen, dass der Zermürbungskrieg in der Ukraine mit allen Mitteln geführt wird.