Man müsste viel verkehrt machen, damit die „Orangerie Neukölln" kein Erfolg wird. Die Gastro-Profis Max Gerolstein und Simon Braus überzeugen mit spannender Spritz-Karte, Kaffee, Kuchen, Kleinigkeiten und bemerkenswerter Aussicht ins neobarocke Gartendenkmal.
Mittendrin und im „Jrünen" – schöner als vor oder in der „Orangerie Neukölln" zum gepflegten Herumsitzen mit Kaffee und Kuchen oder mit Drinks und Snacks kann es kaum werden. Neben der Galerie im Körnerpark, in der „Wand" unterhalb des Plateaus an der Ilsestraße, liegt das Café, das sich abends in eine Bar mit Ausblick verwandelt. „Wir sind unglaublich glücklich, diese Perle gefunden zu haben", sagt Simon Braus, der gemeinsam mit Max Gerolstein seit Ende Mai die „Orangerie" betreibt. „Ich sehe die Fontäne und kann es noch gar nicht fassen, dass das jetzt mein Arbeitsplatz ist."
Der 1912 bis 1916 in einer ehemaligen Kiesgrube im neobarocken Stil angelegte Körnerpark mit seinen Rabatten, Kübelpflanzen, Bäumen und Rasenkarree ist ein im Großstadtkiez zwischen Karl-Marx- und Hermannstraße eher unerwartetes Gartendenkmal. „Selbst viele Berliner kennen diesen Ort nicht", bemerkte Braus. Doch wer einmal auf den Park aufmerksam geworden ist, vergisst ihn nicht so bald.
Max Gerolstein und Simon Braus verwandelten die Räume der „Orangerie" mit einer Interior Designerin binnen eines halben Jahres in eine neuzeitliche Bar mit variablen Nutzungsmöglichkeiten. Ein Terrazzo-Tresen und ein hölzerner Hochtisch bringen Struktur und Abwechslung zu den niedrigeren Tischen oder zu den schlanken Midcentury-Sesseln mit Aussicht ins Park-Panorama. Ein rundes Bar-Regal und Spiegel-Elemente an den Wänden erinnern an die Rundbögen der hohen Fenster. Kugellampen, in einer Neuköllner Polsterei bezogene Sitzbänke, Akustikdecke und Vorhänge brachten den Raum ebenfalls auf den Stand der Gegenwart. „Wir hatten schon eine kolumbianische Hochzeit oder die EP-Release der Sängerin Anaïs", sagt Braus. Die Nachbarn bleiben dabei von unerwünschter Beschallung verschont. Unter der Steintreppe entstand zudem eine komplett neue Küche, die Wirkungsstätte von Köchin Finia Ulmer.
An der Bar kümmert sich bei unserem Besuch Carla Beyer um unsere Getränke. Sie greift zu den an der Tresenkante aufgereihten Likörflaschen und mixt einen Cynar Spritz für den „Herben Artischock" im Mund der kulinarischen Begleiterin. Der Orangerie Spritz für den Fotografen vereint einen Martini Fiero mit Tonic und Sekt. Der Wermut mit Bitterorange bleibt herb im Geschmack. Ich sage ja zu einem Say Yes Spritz. In ihm trifft ein alkoholfreier Martini Vibrante auf Limette, Minze und Tonic.
Wir nehmen an dem warmen Sommerabend draußen an den Gartentischen Platz. Simon Braus bringt einige Likörflaschen heraus. Sie sind weitere spannende Grundsubstanzen für Spritz-Variationen, die eine eigene Seite auf der Karte bekommen haben. „Wir wollen langfristig die Nummer-Eins-Location für Spritz werden." Zum Beispiel mit einem „Select Spritz" aus dem Select Bitter Aperitivo, in dem Wacholder und Rhabarberwurzel die bestimmenderen der insgesamt 30 Kräuternoten sind. „Diesen Aperitivo kennt in Venetien jeder", sagt Braus. Wir in Berlin hatten noch nicht von ihm gehört. Der italienische Fotograf tippt in sein Smartphone und bestätigt nach einigen Minuten. „Das sagt mein Freund aus Treviso auch. Den trinkt man dort."
Prosecco oder ein Wein-Sodawasser-Mix sorgen dafür, dass aus dem so aufgegossenen Likör ein leichtfüßiger, prickelnder Spritz wird. Vermutlich wanderte der österreichische „Gespritzte" – im Prinzip eine Weinschorle – bis Mitte des 19. Jahrhunderts in das damals zu Österreich gehörende Norditalien ein. Dort wurde er mit heimischen Likören gepimpt. Auch der „St. Germain"-Holunderblütenlikör, ein „Lillet" oder ein „Dubonnet" dürfen auf der Spritz-Karte markant mitspielen. Eine nur mit einem Ausgießer bestückte braune Flasche auf dem Tisch kommt ohne ihr Prunkstück, einen zitronengelben Ball als Verschluss: „Ode – The Natural Aperitif". „Den müsst ihr probieren, nur auf Eis!"
Im Winter gibt es 35 Plätze im Innern
Gesagt, getan. Er ist wirklich eine Ode an den guten Geschmack. Die volle Zitronigkeit entsteht durch sieben verschiedene Sorten. Die Zitrusfrüchte werden mit bitteren Rinden und Wurzeln wie Enzian versetzt und mit wildem Thymian, Artischocke, Jasminblüten und einem Hauch Meersalz abgerundet. Tolles Zeug! „Es sind Berliner Jungs, die den herstellen. Das passt zu uns, wir wollen kleine Berliner Unternehmen zeigen." Die klassischen Spritze sind von Hause aus niedrigtouriger als viele andere Drinks. Bislang stehen aber auch zwei alkoholfreie Versionen auf der Karte, ergänzt um einen alkoholfreien Humboldt-Gin-Tonic sowie hausgemachte Limonaden. Ich hoffe, dass sich auch in diesem Segment das Angebot noch erweitert.
Womöglich überzeugten Gerolstein und Braus das Bezirksamt Neukölln als Verpächter als „junge Wilde", wie Braus vermutet. „Wir haben alles von Grund auf neu gedacht. Vielleicht haben wir den Zuschlag bekommen, weil wir das ausschließlich machen und hundertprozentig dahinterstehen. Das hier ist keine Filiale von etwas anderem." Der Profi stapelt tief. Braus und Gerolstein studierten gemeinsam Hotelmanagement und betrieben fünf Jahre lang die Bar „Schwelgerei" in Nord-Neukölln. Sie machten anschließend Anderes, bis sie auf die Ausschreibung für die jetzige „Orangerie" stießen: „Wir haben gemerkt, dass es kribbelt, uns tief in die Augen geschaut und uns beworben." Auch für den Winter, ohne Terrasse, ist der Plan durchdacht. Dann stehen lediglich 35 Plätze im Innenraum zur Verfügung. „Richtig guter Kaffee und hausgebackener Kuchen" sollen Gäste-Magnete für den Besuch tagsüber sein, wenn mindestens die Galerie Kunstinteressierte anzieht.
Wie bei allen Produkten gilt auch in der Süß-Abteilung: Alles wird in Bio-Qualität und „plant based", pflanzenbasiert, angeboten – Cappuccino mit „Oatly Barista"-Hafermilch, Schoko-Himbeer- oder Cheesecake. Das funktioniert. Als wir um 18 Uhr gern noch ein Stück probiert hätten, sind alle Kuchen für den Tag schon aufgegessen. Finia Ulmer kommt erst später ins Haus, um die Backformen mit Rhabarber-Streusel, Mohnmasse oder Kirsch-Streusel erneut zu füllen und in den Ofen zu schieben. Alternativprodukte für Altbekanntes sind Standard: Der „Cheese" für den Cake etwa ist ein sojabasierter Quark.
Ihren Kaffee bezieht die „Orangerie" von der Berliner „Vote"-Rösterei. „Die sind 100 Prozent nachhaltig und nehmen es ernst mit der Transparenz." Vier bis fünf regelmäßig wechselnde Sorten sind als Filterkaffee oder Espresso im Ausschank. Der Kaffee kommt in Mehrweg-Schütten, die keinen unnützen Müll erzeugen. Derzeit arbeiten 20 Personen im „Orangerie"-Team. So ziemlich jeder macht alles: „Unsere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter haben mindestens zwei Barista-Schulungen gemacht, sodass sie wirklich guten Kaffee zubereiten." Das Konzept scheint allen Beteiligten Spaß zu machen. Die Atmosphäre ist heiter und herzlich. Ganz gleich, ob wir Carla Beyer beim Mixen zuschauen oder uns „vegane Seeigel" aus grünen Oliven mit langen Holzsticks und angekräuterte Chips serviert werden.
Draußen-Konzerte bis 28. August
Chips und Oliven durften sich bereits seit der Eröffnung auf den Tischen bewähren. Hausgemachte Focaccia und Dips als solides Beiwerk zum Kaltgetränk kommen neu hinzu. Das Küchenteam formt sich erst und erweitert nach und nach das Angebot. Ein Mittagstisch, etwa mit Suppen im Winter, ist in Planung. Die ersten Caterings laufen ohnehin. Bar und Terrasse sind als Feier-Orte gefragt. Finia Ulmer hat Zitrone auf unserer Focaccia einen Ehrenplatz gegeben – scheibenweise ist sie in die Oberfläche eingebacken. Säuerlichere Bissen wechseln sich mit mediterran bekräuterten Stellen ab.
Wir sind Vorkoster, dürfen die Brot-Streifen mit den drei ersten Dips probieren. Ein Dip mit Gurke, veganer Mayo und Minze als Extra-Schmankerl überzeugt durch Frische. Richtig italienisch wird’s mit roter Tomate, Schnitt- und Knoblauch. Mein Favorit ist eine vollmundig-sanfte Creme aus geschmorten roten Zwiebeln mit Zitrone. Der Fotograf wünscht sich von jeder Sorte „eine Badewanne voll". So viel ist dann doch nicht vorproduziert, aber für eine zweite Runde reicht es allemal.
Simon Braus verabschiedet sich von uns. Eine Besprechung für eine Hochzeit steht an. „Man kann ganz hervorragend auf der Terrasse in dem Bereich neben dem Rasen feiern. Die Kinder können dort spielen, und man ist direkt an der Treppe, um Hochzeitsfotos zu machen." Wer den Körnerpark und die „Orangerie Neukölln" weniger feierlich, dafür aber voll musikalisch erleben will, sollte sich sonntags um 18 Uhr einfinden. Bis zum 28. August gibt’s beim „Sommer im Park" Umsonst-und-Draußen-Konzerte. Vor der „Orangerie" sitzt man bei einem Spritz oder Naturwein dann nicht nur in der ersten Reihe, sondern mindestens akustisch auch mittendrin.