„Organs & Bikes" – das ist der Titel einer geführten Fahrradtour, die entlang des Elberadwegs zu verschiedensten Kirchen und Orgeln zwischen Meißen und Altkötzschenbroda führt.
Die blankpolierten schwarzen Lederschuhe mit dem erhöhten Absatz und das Tablet mit den Noten sind im Rucksack verstaut, der Fahrradhelm liegt griffbereit daneben. Thorsten Göbel ist zufrieden. Jeden Moment können seine Gäste den steilen Burgberg hinaufkommen. Mit ihnen hat der Domkantor des Meißner Doms heute Besonderes vor: eine gemeinsame Fahrradtour, bei der sie gewaltig was auf die Ohren bekommen werden. Thorsten Göbel wird mit ihnen gut 20 Kilometer auf dem Elberadweg von Meißen nach Altkötzschenbroda unterwegs sein – und dabei in drei Kirchen am Wegesrand kurze Orgelkonzerte geben.
Start ist Punkt 12 Uhr im Meißner Dom, gewissermaßen in Göbels „Wohnzimmer". Hierhin lädt der 46-Jährige zwischen Mai und Oktober täglich um diese Zeit zu einem halbstündigen öffentlichen Orgelkonzert ein, 170-mal im Jahr. Heute allerdings besteht das Programm aus den Lieblingsstücken der Tourteilnehmer, sie durften sie vorab aussuchen.
Die beiden meistgenannten werden zu Beginn gespielt und danach weitere, die in der Kirche besonders gut klingen. „Die beiden ersten Stücke hören Sie in jeder der drei Kirchen, die wir besuchen werden", erklärt Domkantor Göbel. „Ich möchte, dass Sie so die Orgeln besser kennenlernen und hören, wie unterschiedlich die Stücke auf den verschiedenen Orgeln klingen."
Start der Tour ist der Meißner Dom
Den weiteren Ablauf übernehmen nun seine Hände und Füße. Klänge füllen das Kirchenschiff, die die Zuhörer sofort in ihren Bann ziehen, sie mit auf eine Sinnesreise nehmen. Das zweite „Pflichtstück", Robert Schumanns „Eintritt aus den Waldszenen", das er 1848/49 komponierte, greift die Stimmung auf – zart, fast zerbrechlich, sehr emotional. Hier möchte man verweilen – doch nein: Je länger Thorsten Göbel anschließend die „Suite Gothique pour Grand Orgue" des französischen Komponisten und Organisten Léon Boëllmann spielt, desto mehr verdrängen die anfangs noch einschmeichelnden Töne die romantische Stimmung und durchfluten den Dom wie eine Naturgewalt. Am Ende bebt der ganze Körper, das Herz rast – und irgendwie ist es fast tröstlich, dass es gleich los geht mit der Radtour. Das nächste Ziel: die barocke Dorfkirche von Brockwitz.
Bevor die Gäste den steilen Burgberg hinunter zur Elbe rollen, erzählt Stadtführerin Katrin Knüpfer, die auf dieser Tour für kurzweilige historische Geschichten am Wegesrand zuständig ist, etwas über den besonderen Ort, an dem die Tour „Organs & Bikes" startet. Es ist die Wiege Sachsens, gegründet 926 von König Heinrich I., der hier an der Elbe eine Burg errichten ließ. Heute prägen die hoch über Meißen gelegene Albrechtsburg, der erste Schlossbau Deutschlands, und der Meißner Dom mit seinen charakteristischen Türmen, die Silhouette der Stadt.
Nun aber los, durch malerische Gassen, vorbei an der Frauenkirche mit dem weltweit ersten bespielbaren Glockenspiel aus Meissener Porzellan, über die Eisenbahnbrücke hinweg auf die rechte Elbseite und dann flussaufwärts vorbei an Feldern und Weinbergen Richtung Brockwitz zu Orgel Nummer zwei.
Während einer kurzen Pause direkt am Elberadweg erfahren die Teilnehmenden, wie diese besondere Tour entwickelt wurde und wer der Mann ist, dem sie diese zu verdanken haben: Als Zwölfjähriger kam der 1976 geborene Thorsten Göbel über den Schulunterricht erstmals mit einer Orgel in Berührung. Das Instrument faszinierte ihn vom ersten Moment. Er erhielt Unterricht, zeigte von Anfang an eine wohl überdurchschnittliche Begabung, und schon ein Jahr später wurde er Organist in der kleinen Dorfkirche seines Heimatortes bei Wiesbaden. Später studierte er in Frankreich Orgel und in Würzburg Kirchenmusik, Dirigieren und Orchesterleitung. Ab 2002 war er als Kantor der Kirchengemeinde Düsseldorf-Oberkassel als Organist, Dirigent und Chorleiter tätig, 2019 wurde er als Domkantor an das Hochstift Meißen berufen. Hier fühlt er sich inzwischen angekommen. Göbel ist begeistert von der Fülle an Orgeln, die rund um Meißen zu finden sind. Im vergangenen Jahr sei er mit Bekannten durch Meißen von Orgel zu Orgel geradelt, habe ihnen vorgespielt und von den wechselvollen Geschichten der Instrumente erzählt. Das kam so gut an, dass die Leiterin der Meißner Tourist-Information anfragte, ob man aus der spontanen Idee nicht ein regelmäßiges Angebot für Besucherinnen und Besucher der Stadt machen könnte. Bei Thorsten Göbel rannte sie damit offene Türen ein.
Radeln an der Elbe von Orgel zu Orgel
Jetzt aber geht es weiter – immer Thorsten Göbel hinterher, der im Anzug und Lederschuhen Fahrrad fährt. „Der Königin der Instrumente trete ich selbstverständlich angemessen bekleidet entgegen", sagt er grinsend. Die Schuhe allerdings wird er in Brockwitz gegen die höherhackigen speziellen Orgelschuhe wechseln, die er in seinem Rucksack hat. „Die sind einfach besser zum Spielen", erklärt er.
Schon aus der Ferne leuchtet die 1737 erbaute weiße Barockkirche der Gruppe entgegen. Ganz anders als der respekteinflößende Meißner Dom wirkt sie ländlich schlicht. Der 1984 liebevoll sanierte Innenraum mit seinen illusionistischen Malereien strahlt eine angenehme Ruhe aus und verschafft der neuen Orgel, die am Reformationstag 2006 eingeweiht wurde, einen perfekten Rahmen. Selbst für ungeübte Ohren ist sofort ein Unterschied zu hören, als Göbel Bachs „Präludium" anspielt. Die meisten verstehen zwar nicht, was er damit meint, dass der „Raum sehr trocken" sei, aber dass die Töne sekundenlang im Raum stehenbleiben, merkt jeder sofort. Es klingt einfach schön satt und an jeder Ecke des Raumes anders. Da Göbel dazu aufgefordert hatte, herumzulaufen, auch mal hoch zu ihm auf die Empore zu kommen, lassen sich die meisten das nicht zweimal sagen.
Zum Schluss zieht Thorsten Göbel im wahrsten Sinne des Wortes noch einmal alle Register: Bachs „Toccata, Adagio und Fuge C-Dur" erschüttert den Raum wie ein plötzlich aufkommendes Gewitter einen lauen Sommerabend. Fasziniert schauen die Gäste zu, wie er die Tasten und Pedalen mit Händen und Füßen bearbeitet, sogar die Nase hat zu tun, mit der er übers Tablet streicht um die Notenseiten „umzublättern".
Inzwischen ist es Nachmittag geworden, noch ein paar Kilometer radelt die Gruppe auf dem Elberadweg, dann ist das Ziel, die Friedenskirche in Altkötzschenbroda, erreicht. Begann die Tour an der Wiege Sachsens, so endet sie an jenem Ort, wo Sachsen seinen (vorübergehenden) Frieden wiederfand. Hier nämlich wurde am 27. August 1645 der Waffenstillstand zwischen dem sächsischen Kurfürsten Johann Georg I. und dem schwedischen General Lennart Torstensson unterzeichnet, der für Sachsen den Dreißigjährigen Krieg beendete. Der Tisch, an dem das historische Ereignis stattfand, steht noch heute in der Kirche. So schlicht dieser Tisch, so imposant die gewaltige Orgel der Dresdner Firma Jehmlich aus dem Jahr 1885. Hier schlägt Göbel musikalisch noch einmal einen weiten Bogen – von Bachs „Präludium C-Dur" aus dem Jahr 1744 bis zu „Te Deum per organo" des Lettischen Komponisten Peteris Vasks aus dem Jahr 1991. Ein kraftvoller, emotionaler Abschluss einer musikalischen Sinnesreise durch Zeit und Raum.