Die Olympia-Organisatoren von Paris 2024 versprechen „offene Spiele", die für mehr Menschen und an mehr öffentlichen Plätzen zugänglich gemacht werden sollen. Die Idee hat gerade in diesen schweren Zeiten Charme, birgt aber auch Gefahren.
Eine sich rasend schnell drehende Erdkugel. Artisten, Musiker und Tänzer in Theatern, auf Straßen oder bei Konzerten. Die Mona Lisa und andere französische Kunststücke. Sportfans und Athleten beim Training oder Wettkampf. Der Eiffelturm. Ein Vulkan. Haute Cuisine. Die Seine, die Avenue des Champs Élysées. Usain Bolt, Michael Phelps. Bilder der Französischen Revolution. Ein Surfer auf einer Riesenwelle an der Atlantikküste. Szenen früherer Eröffnungsfeiern. Dann steht Schwarz auf Weiß das Olympische Motto („Schneller, höher, stärker") – und am Ende wird der offizielle Slogan der Olympischen Sommerspiele und Paralympics 2024 enthüllt: „Games wide open" (Offene Spiele).
Dieses anderthalb Minuten lange Video, das die Organisatoren des Großevents am 25. Juli, also fast exakt zwei Jahre vor dem Start von Paris 2024 in den sozialen Medien veröffentlichten, macht zweifelsohne Lust auf Olympia. Harte Schnitte, dramatische Musik, spektakuläre Bilder, faszinierendes Zusammenspiel von Kunst, Architektur, Natur, Geschichte und Sport. Die Macher sehen das Werbevideo als „Einladung an die Welt, zusammenzukommen und eine ganze Reihe neuer Emotionen gemeinsam zu erleben."
Erinnerungen an den Terror-Akt werden wach
Tony Estanguet, Präsident des Organisationskomitees (OK), verspricht nichts weniger als „bahnbrechende Spiele, die sich die Welt von morgen vorstellen" und „Lösungen testen, erfinden, erschaffen und gestalten, die der Gesellschaft wirklich dienen". Die Jugend müsse wieder in den Mittelpunkt des Handelns gestellt werden, Gleichberechtigung und Inklusion sowieso. Er und sein Team würden „inspirierende, mutige und kreative Spiele" planen, so Estanguet, „die es wagen, einen Schritt über den Tellerrand hinauszugehen, um die aktuellen Modelle, unsere Sichtweisen, unsere Paradigmen herauszufordern". Zusammenkommen und gemeinsam den Sport erleben – das soll bei Olympia in Paris (26. Juli bis 11. August 2024) mehr sein als nur ein Public Viewing auf einem Fanfest.
Wie ernst es die Organisatoren mit diesem höchst anspruchsvollen Ziel meinen, zeigt der Bruch mit den Traditionen bei der Eröffnungsfeier. Die findet nicht wie gewohnt in einem Stadion statt, in das die Mannschaften in einem stundenlangen Prozedere nach und nach mit der jeweiligen Landesfahne einlaufen und sich vom Publikum feiern lassen. Die Macher haben sich für den Start etwas ganz Besonderes einfallen lassen: Die Vorstellung der Athleten und Athletinnen sowie der Funktionäre und anderer Würdenträger erfolgt mitten in Paris zwischen der Pont d’Austerlitz und der Pont d’Iena, in etwa 200 Booten auf der Seine. Auf sechs Kilometern schippern die Protagonisten vorbei an Notre-Dame, dem Louvre, dem Eiffelturm.
Gut für die Sportler: Der Ablauf der Zeremonie wird umgekehrt, dadurch können sie nach dem Einmarsch, der streng genommen keiner mehr ist, die Show von großen Tribünen vom Jardins du Trocadéro aus genießen. „Der Fluss, seine Brücken und die ikonischen Monumente der Hauptstadt dienen als Kulisse für ein einmaliges Spektakel, das der Welt das Beste von Paris zeigt", ließ das OK verlauten, „mit Hunderten von Millionen Fernsehzuschauern". Dazu werden rund 600.000 Besucher am Uferrand erwartet, die der Bootsparade beiwohnen wollen. Und sollen. Paris will die größte Zeremonie der Olympia-Geschichte veranstalten – trotz Sicherheitsbedenken.
„Die Open-Air-Eröffnungsfeier auf der Seine sorgt für kalten Schweiß bei den Organisatoren", schrieb jüngst die französische Tageszeitung „Le Monde". In einem Stadion mit einigen zehntausend Zuschauern für Sicherheit zu sorgen ist das eine, Zwischenfälle bei mehr als einer halben Million Menschen zu vermeiden das andere. Der Terror-Akt am 13. November 2015 ist noch allen in Erinnerung. Dabei starben parallel zu einem Fußball-Länderspiel zwischen Frankreich und Deutschland im Stadtgebiet 130 Menschen, und ein Selbstmord-Attentat beim Spiel im Stade de France wurde nur knapp verhindert.
Um den Sicherheitsstandard zu gewährleisten, wird Frankreich viel Geld für Personal, Ausrüstung und Logistik ausgeben müssen. Das ist ein Problem, denn die einzigartige Eröffnungsfeier verschlingt ohnehin schon massiv Geld. Darüber hinaus haben die Verantwortlichen bei ihren ambitionierten Plänen nicht mit dem russischen Angriffskrieg in der Ukraine gerechnet, der die Weltwirtschaft in eine Krise stürzt. Auch in Frankreich ist die Inflationsrate enorm gestiegen, viele Menschen müssen sparen und verzichten, um überhaupt über die Runden zu kommen. Finanziell ausufernde Kosten bei einem Sportevent kommen da bei vielen Franzosen überhaupt nicht gut an.
Deswegen setzten die Macher alles daran, das Budget von acht Milliarden nicht zu überschreiten – eine Herkulesaufgabe. Bezogen auf den Haushalt sei alles „sehr eng", sagte eine mit der Angelegenheit vertraute Quelle der Nachrichtenagentur AFP. Frankreichs Staatspräsident Emmanuel Macron befürchtet jedoch keine Kostenexplosion, es gebe für jedes Problem „Lösungen". Er beruhigte die Bürger und verneinte die Möglichkeit einer „Olympia-Steuer", über die zuletzt spekuliert worden war. „Die Spiele müssen die Spiele finanzieren", betonte Macron. Dass dies – wenn überhaupt – nur über langfristige Effekte möglich ist, weiß der Politprofi natürlich auch.
Darüber unterhielt sich Macron sicher auch mit Thomas Bach. Mit dem deutschen Präsidenten des Internationalen Olympischen Komitees (IOC) traf er sich kürzlich zu einem „Countdown-Treffen" vor dem Élysée-Palast. Mit dabei war auch OK-Chef Estanguet, als Aktiver zweimaliger Kanu-Olympiasieger (2000 und 2004). Es wurde sich freundschaftlich umarmt, Komplimente verteilt – und viel Optimismus verbreitet. „Sie haben eine einzigartige Chance, die Olympischen Spiele einer neuen Ära in Paris zu präsentieren", sagte Bach zu Macron und Estanguet, „in der Heimat unseres Gründers Pierre de Coubertin."
Der „Herr der Ringe" bedankte sich zudem laut IOC-Mitteilung bei Macron für dessen „Führung und großen Einsatz für den Erfolg der Spiele". Für Macron ist Olympia auch politisch wichtig. Es findet mitten in seiner zweiten Amtsperiode statt, und nicht wenige Experten gehen davon aus, dass es einen Einfluss darauf hat, wie die Arbeit des Präsidenten am Ende bewertet wird. Ein friedliches Welt-Fest mit spektakulären Bildern, famosen Sport-Leistungen und großen Emotionen würde Macron, der seit seiner Wahl zum Präsidenten 2017 an Beliebtheit eingebüßt hat, enorm helfen. Deswegen bringt er sich aktiv ein, trifft und unterhält sich in der Angelegenheit oft mit Estanguet, Innenminister Gérald Darmanin und Sportministerin Amélie Oudéa-Castéra.
Fallen die Spiele erfolgreich aus, würde das Macron hoch angerechnet werden, meinte Emmanuel Grégoire, Erster Stellvertreter des Bürgermeisters von Paris: „Aber wenn nicht, ist es ein Versagen für alle." Auch „Le Monde" schrieb: „Der Präsident weiß, dass der Einsatz bei den Spielen hoch ist." Umso wichtiger ist, dass die Bevölkerung trotz der geopolitischen und finanziellen Unruhen noch klar hinter dem Projekt zu stehen scheint. Laut IOC soll die Zustimmungsrate bei einer kürzlich durchgeführten Studie 80 Prozent betragen, bei den jungen Leuten in Frankreich soll sie sogar auf 90 Prozent gestiegen sein.
32 Sportarten mit 329 Wettbewerben
100 Jahre nach den bislang letzten Sommerspielen in Paris wird Frankreichs Metropole das Großereignis zum dritten Mal austragen – als erst zweite Stadt nach London (1908, 1984, 2012). Schon 1900 und 1924 waren hier die Spitzensportler der Welt zu Gast, doch seitdem hat sich viel verändert. Und auch wenn das IOC mit seinem Reform-Programm dem Gigantismus den Kampf angesagt hat: Olympia ist und bleibt ein Mammut-Projekt mit größten Herausforderungen an Logistik, Infrastruktur, Sicherheit und Budgetierung. Allein aus dem Athletenkreis werden mehr als 10.000 Menschen aus 206 Ländern erwartet, dazu 25.000 Journalisten, neun Millionen Besucher in den Stadien und Hallen und vier Milliarden Zuschauer vor den heimischen Fernsehern. Insgesamt werden 329 Wettbewerbe in 32 Sportarten abgehalten. Die Zahl der Mixed-Wettkämpfe ist aus Gründen der Geschlechtergerechtigkeit im Vergleich zu Tokio 2020 von 18 auf 22 gestiegen.
Mehr als jeder Gastgeber zuvor will Paris die Spiele wirklich zu den Menschen bringen, viele Wettkämpfe sollen „im Herzen der Stadt" abgehalten werden, betont OK-Chef Estanguet bei jeder Gelegenheit. Im Schatten des Eiffelturms, auf der Place de la Concorde oder vor dem Schloss Versailles sollen die Athleten um Medaillen und Platzierungen kämpfen. Das steigert ohne Zweifel die Attraktivität, erhöht aber auch die Komplexität der Organisation. Ein Fiasko wie beim jüngsten Champions-League-Finale der Fußballer in Paris zwischen Real Madrid und dem FC Liverpool, als es beim Einlass zu chaotischen Szenen gekommen war und sich Innenminister Darmanin anschließend für den teils unangebrachten Einsatz von Tränengas durch die Polizei entschuldigen musste, wäre vor den Augen der gesamten Sportwelt fatal.
Sollten die Vorhaben der Organisatoren aber reibungslos und sicher funktionieren, könnten die Sommerspiele von Paris tatsächlich den Aufbruch zu etwas Neuem bedeuten. Für alle zugänglicher, „Games wide open" eben. Auch die Abschlussfeier am 11. August bricht mit alten Traditionen und wird ebenfalls auf einem freien Gelände stattfinden: auf der Parkanlage Trocadero mit Blick auf den Eiffelturm. Es wäre eine beeindruckende Szenerie, die in diesen schweren Zeiten den Glauben an ein friedliches Miteinander in der Welt stärken würde – wenn denn alles friedlich bleibt.