Deutschland steht in den kommenden Wochen offenbar am Scheideweg. Parteien und Verbände haben massive Proteste angekündigt. Und an den politischen Rändern herrscht jetzt schon viel Gebrüll.
Keine 80 Kilometer vom Kanzleramt entfernt, im brandenburgischen Neuruppin, nördlich von Berlin, erlebt Bundeskanzler Olaf Scholz die aufgeladene Stimmung hautnah mit. Er hat auf dem Schulplatz in der märkischen Kleinstadt am späten Mittwochnachmittag zur Bürgersprechstunde eingeladen. Bierbänke und Tische sind aufgebaut und gut besetzt. Schon bei seiner Ankunft legt er die Krawatte ab, die obersten beiden Knöpfe seines weißen Hemdes aufgeknöpft, in der rechten Hand hält Scholz das Mikrofon, die linke locker in der Tasche seiner schwarzen Anzugshose. Der Kanzler ist bereit zum Gespräch mit den Bürgern Neuruppins. Eine Dialogform, die er ausdrücklich so wünscht. Ein Kanzler zum Anfassen.
Doch der Dialog mit den Interessierten auf den Bänken erweist sich als gestört, und diesmal hat der Kanzler nun tatsächlich keine Schuld. Gegendemonstranten haben sich um den Schulplatz mit Trillerpfeifen versammelt, sie brüllen und schreien ihre Parolen. Vielleicht sind es 300, oder auch 500. Doch die Wucht ihres verbalen Spektakels ist auf dem Kleinstadtplatz mit den engen Bürgerhäusern gewaltig. Der Schall wird durch die umliegenden Gassen und kleinen Straßen derart verstärkt, dass der Kanzler gegen den Tumult drum herum geradezu anbrüllen muss. Bei Bürgeranliegen muss er immer wieder nachfragen, weil er es rein akustisch gar nicht verstehen konnte. Für Scholz vielleicht ein Vorgeschmack auf das, was sich im Herbst dann vor seinem Kanzleramt abspielen könnte.
Spagat von AfD und Linken
Im Fall von Neuruppin hatte unter anderem die AfD zur Protestkundgebung aufgerufen, und auch Die Linke hatte zum Protest gegen den Kanzler und seine Bürgersprechstunde geladen. Beide Seiten skandieren ähnlich lautende Parolen: Gegen Sozialabbau, gegen unbezahlbare Energiepreise, gegen Verarmung. Beide Gruppierungen sind jedoch von der Polizei ordentlich getrennt, in der Mitte des Platzes der Kanzler mit seiner Bürgersprechstunde, die zur Brüllstunde wurde, von Menschen, denen offensichtlich nicht an Sprechen oder Diskutieren gelegen ist. Nein, es geht nur um krawalliges Stören. Der Kanzler – und nicht nur er – hat schon des Öfteren in den letzten Monaten, etwa bei Wahlkampf-Auftritten in den zurückliegenden Landtagswahlen, ähnliche Erfahrungen machen müssen.
Am Tag darauf meldet sich Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) zu Wort und empfiehlt in Richtung Linke, sie sollten genau hinschauen, mit wem sie da gemeinsam auf der Straße unterwegs sind. Die Antwort, per Nachrichtenagentur verbreitet, ließ keine Stunde auf sich warten. „Wir als Linke können doch bei derart elementaren sozialen Fragen nicht den Rechten das Feld überlassen", empörte sich Co-Parteichefin Janine Wissler über die Empfehlung der Bundesinnenministerin. Genau das verlangt von den Oppositionsparteien in den kommenden Wochen einen echten Spagat. Sowohl Rechte als auch Linke demonstrieren dagegen, dass die „kleinen Leute" die Verwerfungen durch die galoppierende Inflation tragen sollen. Sowohl die Linke als auch die AfD im Bundestag bereiten schon seit Anfang August ihre entsprechenden Kampagnen für den Herbst vor.
Bedienen zwei Parteien, zumal von den politischen Rändern, das gleiche Thema, kommt es automatisch zu Überschneidungen. So wurde eine Plakatkampagne von der AfD-Bundesgeschäftsstelle gleich wieder eingestampft, die Phraseologie darauf klang so wie bei der Linken, die bei der Produktion ihrer Flyer schon einen Schritt weiter waren.
Politikwissenschaftler sind bemüht, Vergleiche mit den Endjahren der Weimarer Republik zu ziehen. Spätestens mit Einsetzen der Weltwirtschaftskrise im Oktober 1929 bekämpften sich Kommunisten und NSDAP. Auch vor fast 100 Jahren ging es um soziale Gerechtigkeit. Auch damals waren sich Linke und Rechte einig gegen alles „Etablierte", gegen kapitalistische Ausbeutung der Arbeiter und generell gegen das System von Weimar, der ersten Demokratie in Deutschland.
Bundesaußenministerin Baerbock (B90/Grünen) warnte angesichts der Entwicklung vor „Volksaufständen", womit sie überspannte, wie sie mittlerweile selbst einräumen musste. Doch der von allen möglichen Gruppierungen ausgerufene „heiße Herbst" wird auch für die Grünen zu Nagelprobe. Sie sitzen in der Regierung und sind schon längst keine Protestpartei mehr. Bereits Anfang August zeigten Klimaaktivisten bei ihrem Hearing in Hamburg sehr publikumswirksam, dass sie mit der Grünen-Bundespolitik überhaupt nicht zufrieden sind – wobei sich die Gruppierungen auch in diesem Segment immer weiter aufsplitten.
Es ist keine homogene Truppe mehr, die sich bis dato leicht einsortieren ließ in Klimaaktivisten gegen die Grünen und den Rest der Bundesregierung. Splittergruppen ringen um die Deutungshoheit. Extinction Rebellion, Letzte Generation oder Fridays for Future sind dabei am einflussreichsten, dazu mischen sich unterdessen weit radikalere Gruppierungen. Eine mittlerweile unüberschaubare Gemengelage von Klimarettern, die da im kommenden Herbst vor allem in Berlin die Meinungshoheit erobern wollen. Im Klartext: Bei den angekündigten Protesten wird es zum einen um soziale Gerechtigkeit, gegen hohe Energiepreise gehen, da sind sich Linke und Rechte einig, wenn auch mit unterschiedlicher Herangehensweise, wie das bewerkstelligt werden soll. Dagegen stehen zum anderen die Klimaaktivisten, für die die Preise für fossile Energieträger immer noch viel zu niedrig sind. Atomkraftwerke abschalten, keine Kohlekraftwerke aus der Reserve holen und vor allem keine Flüssiggasterminals (LNG) in Deutschland sind ihr Leitmotiv. Damit stehen sie gegen die gesamte Bundesregierung und gegen alle Oppositionsparteien im Bundestag. Die Klimaaktivisten haben damit das Zeug zur außerparlamentarischen Opposition 4.0. Selbst Bundesinnenministerin Nancy Faeser musste nach dem Hamburger Auftakt der Klimaaktivisten ausgerechnet in der „Bild am Sonntag" einräumen, dass es ein erhebliches linksradikales Potenzial bei den Protestaktionen gab.
Potenzial für radikale Proteste
Dabei sind die klassischen Einteilungen der Protestbewegungen in Links und Rechts längst unscharf und überholt. Nicht umsonst hat der Verfassungsschutz mit dem Auftauchen der „Querdenker" eine neue Kategorie (demokratiefeindliche und/oder staatsgefährdende Delegitimierung des Staates) geschaffen, um Entwicklungen angemessener fassen zu können.
Parallel zu diesen zunehmend immer radikaleren Bewegungen zeichnet sich für den kommenden Herbst auch großer Protest von klassischen Verbänden ab. Berufsverbände haben zum Demo-Stelldichein aufgerufen. Allen voran die Bauern, gefolgt von den Lkw-Fahrern. Landwirte und Spediteure leiden unter hohen Sprit- und Stromkosten, auch sie verlangen Entlastungen von der Regierung. Und Sozialverbände formulieren schon lang ihre Kritik an konkretem Regierungshandeln, die Entlastungen würden vor allem mit der Gießkanne und nicht zielgerichtet verteilt. Damit dürfte die Stimmung in der Ampelregierung unter Kanzler Scholz in den kommenden Wochen noch weiter unter Druck kommen.
Druck gibt es aber auch innerhalb der Regierungsparteien selbst. Die SPD-Basis will soziale Entlastungen, die Grünen-Basis den Klimaschutz wieder in den Vordergrund rücken und die FDP muss ihr Wirtschaftsklientel bedienen. Alles gleichzeitig geht aber nun mal nicht zusammen.