Politiker warnen vor größeren Unruhen im Herbst. Der Protestforscher Daniel Mullis erläutert, was die Menschen auf die Straße treibt und warum er nicht davon ausgeht, dass es in Kürze zu einem Volksaufstand kommen wird.
Herr Dr. Mullis, haben Sie eine Prognose, was uns im kommenden Herbst auf den Straßen erwarten könnte?
Es ist schwierig zu sagen, was der Herbst bringen wird. Aus meiner Sicht dient die Warnung vor Aufständen aber eher der aktuellen politischen Kommunikation, um auf den Ernst der Lage hinzuweisen. Natürlich kann es aber sein, es ist gar wahrscheinlich, dass es im Herbst zu Protesten kommt. Es gibt Anzeichen, dass die extreme Rechte versuchen wird, aus der Situation Kapital zu schlagen. Dabei sind nicht zuletzt die Netzwerke von Relevanz, die im Kontext der Proteste gegen die Corona-Schutzmaßnahmen entstanden sind.
Nach meinen Beobachtungen kommen aber gerade die Demonstranten, die sich gegen die Corona-Maßnahmen richten, aus unterschiedlichen politischen Richtungen und Milieus. Kann man diese heterogene Gruppe pauschal in die rechte Ecke stellen?
Es mag regionale Unterschiede geben, aber in der Tendenz klar ja. Sie werden nicht dahin gestellt, das machen die Bewegungen selbst. In Sachsen etwa muss man ganz klar sagen, dass extrem rechte Akteure die tragenden Strukturen der Corona-Proteste sind. Was nicht heißt, dass alle, die daran teilnehmen, der extremen Rechten zuzurechnen sind. Sie distanzieren sich aber auch nicht. Die gemeinsame Basis der Corona-Proteste bildet zudem der Glaube an Verschwörungserzählungen, die antisemitische Bezüge aufweisen. Auch ist das populistische Element „Wir hier unten" gegen „die da oben" stark ausgeprägt. In Deutschland wird dieses Narrativ wesentlich von Rechtsaußen bedient.
In Berlin kommt es bei Demonstrationen immer wieder auch zu Gegendemonstrationen. Werden Diskurse zunehmend auf der Straße ausgetragen? Oder anders formuliert: Sprechen Menschen nicht mehr direkt miteinander?
Es ist nicht sicher, dass Menschen nicht sprechen. Vielleicht tun sie dies im familiären Umfeld oder mit ihren Nachbarn. Wir sprechen hier aber von unterschiedlichen politischen Räumen. Bei einer Demonstration wird im öffentlichen Raum etwas proklamiert. Aus meiner Sicht gehört es zum demokratischen Ringen, dass derselbe Raum angefochten werden kann. Gegenprotest vor Ort schließt die Diskussion an anderen Orten nicht aus. Obwohl ich schon beobachte, dass es mit manchen Leuten tatsächlich mittlerweile schwierig ist zu reden. Einige haben sehr homogene und ressentimentgeladene Weltbilder verfestigt.
„Es stellt sich die Frage, wer gehört wird"
Muss ich es in einer Demokratie denn nicht auch aushalten können, wenn der andere eine andere Meinung hat?
In der Demokratie gilt die Meinungsfreiheit. Es gilt aber auch, dass politisch über Meinungen gerungen wird. Aus meiner Sicht ist Gegenprotest dann auch Teil dieser Meinungsfreiheit und dieses Ringens. Bei Protesten, die menschenfeindliche und antidemokratische Züge aufweisen, hat man als demokratische Zivilgesellschaft das Recht, dem entgegenzutreten. An einem gewissen Punkt kann somit etwas vom Grundgesetz und von der Meinungsfreiheit gedeckt sein. Das heißt aber noch lange nicht, dass die Zivilgesellschaft akzeptieren muss, dass alles und jedes einfach auf die Straße getragen wird.
Könnte es sein, dass wir im Herbst völlig neue Gruppen auf der Straße sehen werden? Das heißt Menschen, die vielleicht noch nie politisch aktiv waren.
Ja, aber es stellt sich die Frage, wer gehört wird. Wir sehen seit Jahren, dass Menschen im Umfeld von Pegida oder aktuell der Proteste gegen die Corona-Maßnahmen durchaus Beachtung finden. Sie werden als besorgte Bürger angesprochen. Da wurden Bürgerdialoge abgehalten, Spitzenpolitiker haben sich zum Austausch getroffen. Das hatte zwei Effekte: Zum einen hat es die Protestierenden in ihren bisweilen extrem rechten Einstellungen und Ressentiments bestärkt. Zum anderen wurden solche Einstellungen damit normalisiert. Ich glaube, protestiert wird von vielen Seiten schon lange gegen Probleme, die aktuell drängender werden: Armut, soziale Ungleichheit, globale Klimagerechtigkeit. Ein Beispiel: Als 2015 mehrere Zehntausend Menschen im Zuge der europäischen Schuldenkrise in Frankfurt auf die Straße gingen, um für eine sozialere Europapolitik zu protestieren, hat das kaum Widerhall gefunden. Gleichzeitig war für die Pegida-Proteste ein großes Ohr da. Hätte die Politik früher auf die zunehmende soziale Polarisierung sowie auf die Energiekrise – Thema war es schon lange in den Klimaprotesten – reagiert, wären die Sorgen vor diesem Herbst vielleicht weniger groß.
Welche Voraussetzungen müssten gegeben sein, damit es zu einem Volksaufstand käme?
Um klar zu sein: Ich gehe nicht von einem Aufstand aus. Ein Aufstand ist etwas, was auch das System praktisch und akut infrage stellen würde. Da sehe ich das Potential in Deutschland nicht. Zu Ausschreitungen kann es natürlich kommen. Nur: Eine Demonstration, die eskaliert, ist noch lange kein Volksaufstand.
Warum sehen Sie das Potenzial in Deutschland nicht?
Für eine größere Protestwelle ist die Situation sicher gegeben. Es sind vielfältige Themen vorhanden, die in der breiten Gesellschaft aus sehr unterschiedlichen Gründen für Unmut sorgen: Zustand der Demokratie, die soziale Ungleichheit, Klimakrise, Corona und nun auch die auch hierzulande spürbaren Folgen des Krieges von Russland gegen die Ukraine. Gleichzeitig sind auch Akteure auszumachen, die Willens und in der Lage sind, Proteste zu koordinieren. Kurzum: Protest ist zu erwarten. Aber für mehr, da bräuchte es auch eine geteilte Vision, zumindest eine minimale Vorstellung, was nach einem Aufstand kommen sollte. Da stelle ich in meiner Forschung zwei Dinge fest: Erstens, bei aller Kritik an der bestehenden Situation sind viele Menschen im Grundsatz noch immer zufrieden mit Deutschland, wie es ihnen geht und auch, was die Demokratie angeht. Zweitens stellen aktuell zwar viele fest, dass sich die Welt stark wandelt und die Zukunft viel Ungewisses birgt. Nur in Bezug darauf, was daraus resultieren soll, da sehe ich eher Ratlosigkeit als Wut oder Umsturzlust. Dennoch mache ich mir Sorgen über den Zustand der Demokratie und den sozialen Zusammenhalt. Wir sehen seit Jahren das Erstarken der extremen Rechten, die AfD hat aktuell in Umfragen wieder Aufwind. Natascha Strobl (Politologin, die zu Rechtsextremismus forscht, Anmerkung der Redaktion) hat in „Radikalisierter Konservatismus" klar gezeigt, dass auch in etablierten konservativen Parteien Tendenzen auszumachen sind, die Demokratie erodieren.
„Eher Ratlosigkeit statt Wut und Umsturzlust"
Wie könnte die Politik wachsendem Unmut in der Bevölkerung begegnen?
Von meiner Forschung in Stadteilen ausgehend, wo die AfD relativ stark ist, wobei ich versuche herauszufinden, wie Gesellschaft vor Ort aufgestellt ist und in welchen Milieus regressive Einstellungen erstarken, kann ich drei Dinge sagen. Erstens: Es ist wichtig, bei antidemokratischen Einstellungen und Rassismus entgegenzuhalten. Zweitens denke ich, dass Politik gut daran täte, für sozialen Ausgleich zu sorgen. Sozialpolitik ist nicht alles, aber die öffnende soziale Schere in der Gesellschaft ist ein Problem. Und drittens: Ich denke, es wäre wichtig, Klarheit über die Herausforderungen zu schaffen. Es bringt nichts, um den heißen Brei herumzureden. Ja, der Winter dürfte schwer werden. Ja, die Klimakrise wird grundlegende Anpassungen in unser aller Lebensweisen erfordern. Es hilft nichts, immer wieder das Versprechen zu machen, dass alles bleiben kann, wie es ist, obwohl das objektiv nicht der Fall ist. Die Vorstellung, es würde so weitergehen wie bisher, schafft auch falsche Perspektiven, die nicht eintreten, was zu Missmut führt.