Der Bikeurlaub ist der neue Skiurlaub: Immer mehr Winterdestinationen in den Bergen locken Mountainbiker auf die Trails und versprechen größere Naturerlebnisse als im Winter.
Die beiden Brüder sehen in ihrer Schutzkleidung mit Oberkörperprotektoren aus wie zwei kleine Rugby-Spieler. Sie schwitzen und sind abgekämpft, als sie die Räder im Bike-Keller des Hotels parken. Es ist der gleiche Keller, in dem im Winter Gäste ihre Skier an die Wand lehnen. Der erste Tag in der Bike-Schule Lenzerheide im Schweizer Kanton Graubünden war ganz schön anstrengend. Und es hat auch noch geregnet.
Jetzt steht es um die Laune von Jakob und Adrian nicht sonderlich gut. Aber sie wollen dem alpinen Vorhaben im Fahrradsattel noch eine zweite Chance geben. Skifahren, das kennen sie bereits. Aber die Vorstellung vom Bikepark in den Bergen hat die beiden sieben- und elfjährigen Brüder, ja die ganze Familie, schon neugierig gemacht.
Bikeurlaub als Sommervariante des klassischen Skiurlaubs? Das ist in immer mehr Wintersportgebieten möglich. Vom Jura bis in die Kalkalpen – sobald der Schnee schmilzt und die Temperaturen angenehmer werden, erobern Mountainbiker die Berghänge.
„Das Biken ist das neue Skifahren", sagt Christian Rakosy, der im österreichischen Fiss als Bikelehrer arbeitet und im Winter als Skilehrer am Arlberg. Er wisse von Skigebieten, die mittlerweile mehr in den Sommer investierten als in den Winter. Die Entwicklung zeigt sich auch bei den Gästezahlen. So fallen in Lenzerheide bereits ein Fünftel aller Gondel- und Liftfahrten auf Sommergäste, berichtet Marc Schlüssel, stellvertretender Geschäftsführer beim Lenzerheide-Marketing. Und die kämen immer öfter nicht zum Wandern, sondern zum Mountainbiken.
Vom Jura bis in die Kalkalpen
Während man in Lenzerheide in den vergangenen Jahren Millionenbeträge in die Bike-Infrastruktur investiert hat und die Buchungen bei den Fahrradkursen in den örtlichen Bike-Schulen durch die Decke gehen, stellen sich auch die Hersteller von Gondeln auf den neuen Fahrradtourismus ein. So hat Doppelmayr eine „Bike Cab" entwickelt, in der bis zu acht Fahrräder an einem Ring aufgehängt werden können.
Am nächsten Morgen – der Regen vom Vortag hat sich verzogen, aber die Gipfel rundherum lassen sich noch nicht blicken – surrt die ganze Familie mit Mama und Papa vom Bike-Keller des „Valbella Resort" auf Stollenreifen zur Talstation der Rothornbahn. Wie Ameisen auf ihrem Haufen cruisen die Biker im umliegenden Park umher. Mit wuchtigen Integralhelmen und schlammbesprenkelter Sportkluft springen sie meterhohe Holzschanzen herunter und rollen weiter bis zum Lift, wo sie ihr Fahrrad aufbäumen und an der Gondel aufhängen – bereit für den nächsten Downhill-Kick.
Pascal Krieger, Brand-Manager beim „Bike Kingdom", vergleicht den Bikepark, der mit Pumptrack, Rampen, Drops, Tables und weiteren Hindernissen zwischen Talstation Rothorn und der Mittelstation Scharmoin vor einigen Jahren angelegt wurde, mit einem Snowpark in einem Skigebiet. Hier stehen Tricks und Stunts im Vordergrund. Das ganze Skigebiet wandelt sich im Sommer zum „Bike Kingdom". Hier sind die Radler jedoch nicht auf saisonal präparierte Pisten angewiesen. In Graubünden dürfen sie sämtliche Wanderwege nutzen. So kommen samt Singletrails 900 Kilometer zusammen, die Skipisten im Winter summieren sich dagegen auf 225 Kilometer.
„Downhill hat ein krasses Image", sagt Benjamin Ott, der mit seinem Fully, einem vollgefederten Mountainbike, an der Talstation auf seine Kursteilnehmer wartet. Ott, den im Ort alle nur Beni rufen, ist ein zierlicher Mann, 40 Jahre alt, und bei ihm ist die Familie in besten Händen. Beni nahm für die schweizerische Nationalmannschaft der Junioren 1997 an einer Downhill-WM teil und fuhr Cross-Country-Rennen, die bislang einzige olympische MTB-Disziplin.
Schon für Kleine ab drei Jahren
Aber eigentlich sei alles gar nicht so schlimm und die elterliche Sorge, Downhill sei nur was für Draufgänger, die Knochenbrüche einkalkulieren, schnell zu zerstreuen. Schließlich müsse man nicht gleich die höchsten Drops und weitesten Jumps wagen. Wie Ski-Alpin ist auch Downhill ein Breitensport, der von Cracks wie auch Rookies betrieben werden kann. Entsprechend dosieren lässt sich das Risiko. Auch nicht jeder Skifahrer stürzt sich gleich mit Tempo 140 die berüchtigte Streif in Kitzbühel hinab.
„Den Stress im Kopf, den kannst du vertreiben", sagt Beni. Wem auf einer der Trail-Abfahrten mulmig zumute werde, könne immer wieder auf Wirtschaftswege im Areal ausweichen und sanft zu Tal rollen. Doch die Strecken im Park seien so gebaut, dass Holzbretter-Konstruktionen, wenn sie zu Sprüngen zwingen, jederzeit umfahren werden können. Außerdem brächten Bike-Urlauber Basis-Skills mit – denn Radfahren sei für die meisten etwas Alltägliches. „Skifahren aber, das machst du einmal im Jahr", sagt Beni. Auf einem Übungsareal oberhalb der Talstation, das mit groben Felsbrocken, krumm gewachsenen Bäumen und aufgeschütteten Kurven und Hügeln naturnah angelegt ist, lässt der Ex-Rennfahrer die Familie zum Warmwerden ein paar Runden drehen. „Ich schaue mir das Skill-Level an – wie ein Skilehrer." Auch Beni unterrichtet wie sein österreichischer Kollege Christian Rakosy und viele andere Bike-Lehrer im Winter auf Brettern und wägt stets ab, welchen Schwierigkeitsgrad er seinen Schülerinnen und Schülern zutrauen kann. Schon die Jüngsten ab einem Alter von drei Jahren – eine weitere Parallele zum populären Wintersport – werden in technischem Fahrunterricht unterwiesen. Die Pimpfe sitzen dann auf pedallosen Kinderlaufrädern in Mountainbike-Optik.
Adrian und Jakob schickt Beni auf den Pumptrack, ein Kurs mit wellenförmig angelegten Hügeln: „Beim Anfahren des Hügels in die Knie gehen, zur Kuppe hin die Beine strecken, den Schwung mit in die Luft!", ruft der Bike-Lehrer seinen Schülern zu. Bald gelingt es den Schülern, ohne Pedaltritte mit Auf- und Abwärtsbewegungen in Schwung zu bleiben, sich die Strecke sozusagen entlang zu „pumpen".
Genug des Eingroovens. „Wollen wir mal ganz runterfahren?", fragt Beni und nickt Richtung Berg. Kurz darauf geht es durch das Drehkreuz an der Talstation, wo Mitarbeiter helfen, die Bikes an den Gondel-Halterungen einzuhängen. Bald ist das Rumpeln, wenn es über die Masten geht, das einzige Geräusch und mit jedem Höhenmeter wird das Alpin-Feeling intensiver – wie im Skiurlaub, nur dass sich statt weißer Flächen jenseits der Baumgrenze kurz vor der Bergstation die Hochgebirgsvegetation zeigt: kniehohes Buschwerk, Moose, zartrosa blühende Alpenrosen, dazwischen nackter Fels.
Harmonie und Nervenkitzel
Dann kommt der Adrenalinmoment: Es kostet Überwindung, sich von der gewölbten Schwelle aus Gitterrohr am Beginn des Trails abzustoßen. Die Brüder zögern, lassen einige Cracks in Race-Montur vor, die die Schwelle als Rampe nutzen, mit ihren Bikes abheben, wie ins Nichts zu plumpsen scheinen und der ersten Steilkurve entgegenrasen. Beni macht den Anfang, stoppt weiter unten und winkt die Rookies und auch den Papa herbei, der sich den Spaß nicht entgehen lassen will.
Nach einem inneren Anschubser, auch das Gefühl vom Skifahren nicht ganz unbekannt, beginnt das Spektakel auf Stollen: Steilkurve um Steilkurve wird die Körperbeherrschung im Pedal stehend besser. Irgendwann hat man den Dreh raus, die Kurven hoch genug anzufahren, um zur Kurvenmitte nicht über den Rand hinausgetragen zu werden. Das lässt die Schräglage zu. Wie auf einer riesigen Murmelbahn rollen die Biker den Flowtrail entlang, machen an kleinen Buckeln erste Sätze, spüren die Anstrengung in den Beinen. Ein eigenartiges Gefühl von Harmonie und Nervenkitzel stellt sich ein. An den Kreuzungen mit den Wirtschaftswegen legt Beni Verschnaufpausen ein – was auf völliges Unverständnis stößt: „Los, weiter!", stoßen Adrian und Jakob wie mit einer Stimme hervor. Dann – nach 2,7 Kilometern, 346 Höhenmetern und gut 15 Minuten – ist der Rausch auf der Flowline, dem familienkompatiblen Trail im „Bike Kingdom", auch schon zu Ende, die Talstation naht nach dem letzten Buckel, wo die Fullys der Pausierenden wie teure Schinken an den Ständern hängen und andere Fahrer in Waschboxen mit Schlauchwasser den Dreck von den Rohren spritzen. Am Drehkreuz angekommen, ist die Laune in ungeahnte Höhen geschossen: „Sofort noch mal!" Unisono, versteht sich. Gesagt, getan. Der Stress im Kopf – wenn es ihn jemals gab, ist er jetzt auf jeden Fall wie weggepustet.