Fontane, Brandt, Hasselhoff: Berliner Stadtgeschichte ist oft Männergeschichte. Aber was ist mit den prägenden Frauen? Spezielle Stadttouren widmen sich ihnen – und erweitern den Blick.
Was wäre passiert, wenn Friedrich Schiller ein Mädchen gewesen wäre? Darüber sinnierte einst die Berliner Frauenrechtlerin Hedwig Dohm (1831–1919) und kam zu dem Schluss: Friederike Schiller wäre die größte Dichterin Deutschlands gewesen – „wenn auch ungedruckt".
Zu Dohms Lebzeiten waren die Arbeitsmöglichkeiten für Frauen beschränkt. Dohm forderte die völlige Gleichstellung für Frauen – bei Bildung, Beruf, Wahlen. So radikal diese Ideen damals waren – heute kennen nur wenige den Namen der Publizistin. Eine Stadtführung in Berlin folgt ihren Spuren.
Hedwig Dohm war Frauenrechtlerin
„Menschenrechte haben kein Geschlecht", so lautet Hedwig Dohms berühmtester Satz. Er steht auf ihrem Grabstein auf dem St.-Matthäus-Kirchhof im Stadtteil Schöneberg. Und ebenso auf einer Gedenktafel an einer Häuserwand im Kreuzberger Teil der Friedrichstraße, wo Dohm 1831 geboren wurde. In der Nähe ist das Willy-Brandt-Haus, die Bundeszentrale der SPD. Auch der Checkpoint Charlie ist nicht weit entfernt von Dohms Geburtsort. Er erinnert an die Teilung der Stadt, an die Mauer. Hier, in Höhe des Brandenburger Tors, sang der US-Schauspieler David Hasselhoff an Silvester 1989 von „Freedom". Brandt und Hasselhoff dürften fast jedem Berlin-Besucher etwas sagen, Dohm nicht unbedingt.

Hedwig Dohm sei lange in Vergessenheit geraten, sagt Stadtführerin Tanja Beer, die bei ihrer Führung heute knapp 20 Frauen auf Spurensuche rund um das Leben der Feministin mitnimmt. Männer haben sich keine angemeldet – es seien eher selten welche dabei, sagt Beer, die die Tour 2019 zum 100. Todestag Dohms konzipiert hat. Angeboten wird sie von Crossroads, einer Organisation, die Führungen mit kirchlichem Schwerpunkt sowie Touren, die eher unbekannte Biografien und Geschichten aus Berlin beleuchten, offeriert.
Beer führt die Gruppe von der Friedrichstraße über das Jüdische Museum und das Berliner Abgeordnetenhaus zum Potsdamer Platz. Dohm, die 1919 starb und sich vehement für das Frauenwahlrecht eingesetzt hatte, sei in den 1970er-Jahren wiederentdeckt worden, erzählt Beer. Die Zeitschrift „Emma" etwa habe in der Reihe „Schwestern von gestern" über sie berichtet.
Der Titel der Reihe hätte Dohm vielleicht gefallen. Sie war bekannt für ihren Humor, mit dem sie selbst ihre Kritiker entwaffnet habe, so Beer. Den Vorwurf, sie hasse Männer, habe sie gekontert: Keinesfalls hasse sie Männer, sie möge ja auch Löwen, aber „das heißt nicht, dass ich mich von ihnen fressen lasse".

Die Stadtführerin nennt Dohm eine „begnadete Autodidaktin". Ihren Mann Ernst Dohm, den späteren Chefredakteur der Satirezeitschrift „Kladderadatsch", traf sie, weil sie Spanisch lernen wollte: Er war ihr Hauslehrer. Neben frauenrechtlichen Schriften veröffentlichte sie Romane, Novellen, Lustspiele – oft positiv besprochen von Theodor Fontane, einem Freund des Ehepaars. Und bis heute wesentlich bekannter als Hedwig Dohm.
Die für ihre Zeit so radikale Feministin ist nur eine von vielen prägenden Frauen, die in Berlin gelebt haben. Für September plant Crossroads eine Themenwoche, verschiedene weibliche Persönlichkeiten sind im Gespräch. Eine Führung zu der bedeutenden deutschen Zeichnerin, Schriftstellerin und Komponistin Bettina von Arnim wird derzeit schon angeboten.
Bei Frauentouren steht Frauengeschichte schon seit 1994 im Mittelpunkt, dem Jahr der Gründung. Unter dem Motto „Ohne Frauen ging und geht nichts!" bietet das Berliner Netzwerk Führungen, Vorträge oder Seminare an. 2001 gab es dafür den Frauenpreis des Berliner Senats.
Rund 100 Touren sind im Angebot, etwa „Die Goldenen Zwanziger am Kurfürstendamm", „Lesben-Subkultur", „Frauenleben in der NS-Zeit", „Schriftstellerinnen im Berliner Westen", „Zuwanderinnen in Neukölln", „Preußische Königinnen" oder Führungen mit Titeln wie „Morden Frauen anders?" oder „Bauen Frauen anders?". Auf der Homepage findet sich ein ganzer Reigen an Touren und es kämen immer neue hinzu, sagt Claudia von Gélieu, die „Frauentouren" einst mitgründete. Rund ein Dutzend Frauen sind sie mittlerweile. Das Angebot richtet sich an Interessierte egal welchen Geschlechts. Ähnlich wie Stadtführerin Tanja Beer sieht aber auch Claudia von Gélieu nicht allzu viele Männer bei den offenen Führungen.
Von Gélieu hat Politikwissenschaften studiert und Sachbücher zur Frauengeschichte veröffentlicht. „Mich kann man in Berlin überall aussetzen und ich kann eine Führung machen", sagt sie und lacht. 1988 habe sie die erste Frauentour in der Hauptstadt gemacht – nachdem ihr bei ihren bisherigen Führungen aufgefallen war, dass es kaum um sie ging. Sie hofft, dass sie den Blick der Teilnehmenden weite und für diese Lücke schärfe.
„Neue Zugänge zur Frauengeschichte"
„Wir verstehen uns als Netzwerk und sind offen für neue Zugänge zur Frauengeschichte", sagt die 61-Jährige. Wichtig sei etwa, dass Migrantinnen ihre Geschichten selbst erzählten und nicht jemand über sie spreche. Eine Tochter von türkischen Gastarbeitern oder eine Frau, die als Flüchtlingskind aus dem Libanon gekommen ist, bieten Führungen an. „Bei diesen Touren gibt es oft die meisten Fragen."
Von Gélieu führt eine Gruppe Frauen – wieder ist kein Mann dabei – durch die Zitadelle Spandau. Das Thema der Tour: „Spannende Spandauerinnen". Die Zitadelle am Rand Berlins war seit 1578 eine Festung und wurde bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs 1945 militärisch genutzt. Von Gélieu räumt an diesem Nachmittag mit dem Vorurteil auf, dass alles Militärische Männersache sei.
Sie beschreibt den Ort im westlichsten Berliner Bezirk als Rückzugsort von verwitweten Fürstinnen oder als Gefängnis für in Ungnade gefallene Liebhaberinnen. Sie erklärt, wie Kriege die Zivilbevölkerung und damit die Frauen trafen. Und sie erläutert, welche Möglichkeiten diese damals hatten, ihr Leben zu gestalten. Und welche eben nicht.
Die Frauentouren setzen sich dafür ein, dass mehr Frauennamen im Stadtbild zu sehen sind – auf Straßenschildern, Ehrentafeln oder in Form von Denkmälern. „Bis Frauen in der Geschichte, beim Erinnern und Gedenken gleichgestellt sind, bleibt noch viel zu tun", heißt es auf der Homepage von Frauentouren. Ist der Satz noch aktuell? Claudia von Gélieu sagt: „Es tut sich einiges, aber noch nicht genug."