Wer oder was ist eigentlich mit „Flüchtlingswellen" und „Migrantenfluten" gemeint? Und was bedeutet Klimagerechtigkeit? Die Friedensforscherin Dr. Christiane Fröhlich vom Leibniz-Institut für Globale und Regionale Studien (GIGA), spricht über Labeling und Migration.
Frau Fröhlich, was erforschen Sie?
Im Moment konzentriere ich mich auf die sogenannte Zwangsmigration, also auf die Bewegung von Menschen, die man von außen nicht als freiwillig wahrnimmt. Und da sind wir schon bei einem ganz wichtigen Punkt, nämlich der Zuschreibung von Begriffen. „Flüchtling", „irregulärer Migrant", „Klimaflucht" oder „Klimamigration". Das sind alles Begriffe, die sozusagen in zwei Richtungen wirken: einmal hin zu denjenigen, die auf dem Weg sind. Und einmal hin zu denjenigen, die denken, dass das auf uns als Gesellschaft zukommt.
Wie würden Sie den Zusammenhang zwischen Klima und Migration beschreiben?
Der Zusammenhang, der in den letzten Jahren am meisten Aufmerksamkeit bekommen hat, ist eine relativ einfache Kausalität zwischen dem Klimawandel und einer daraus resultierenden Ressourcenknappheit, beispielsweise Wasserknappheit oder Landknappheit durch Wüstenbildung. Das entzieht Menschen ihre Lebensgrundlage, und deswegen bewegen sie sich von A nach B.
Ganz so einfach und linear ist es jedoch nicht. Erstens sind nicht alle Menschen in einer Gesellschaft in gleicher Weise vom Klimawandel betroffen. Menschen, die von der Landwirtschaft leben, sind zum Beispiel oft stärker betroffen als Menschen, die in Städten wohnen und arbeiten. Zweitens müssen wir darüber reden, an welchem Punkt im Spektrum von freiwilliger Bewegung bis hin zu erzwungener Bewegung wir uns befinden. Es gibt im Kontext des Klimawandels Migrationsbewegungen, in denen die Menschen, die unterwegs sind, sich selbst nicht als Klimaflüchtlinge sehen. Andere sehen hierbei wiederum von außen Effekte des Klimawandels. Bleibt die Frage: Was wird von außen zugeschrieben, und wie sehen die Menschen sich selbst? Es gibt dabei eine große Bandbreite von Klimaeffekten.
Welche wären das?
Es gibt diejenigen, die sich langsam aufbauen, beispielsweise eine mehrere Jahre dauernde Dürreperiode versus eine Flut oder Feuer, die auch mit dem Klimawandel in Verbindung gebracht werden. Überschwemmungen sind ein ganz typisches Beispiel, da sie so schnell passieren, dass der Zusammenhang mit Migration leicht herzustellen ist. Oder auch der ansteigende Meeresspiegel, wenn ganze Inseln im Meer verschwinden. Es gibt also Effekte vom Klimawandel, da ist der Zusammenhang leichter herzustellen. Und es gibt solche, die viel schwieriger wissenschaftlich und sauber herauszuarbeiten sind.
„Nicht jeder kann sich Migration leisten"
Wichtig ist auch: Wohin gehen die Menschen, und wie lange gehen sie? Da gibt es ganz große Abstufungen. Im sogenannten Globalen Norden, in Europa und Nordamerika, gibt es eine Angst vor „Klimaflüchtlingen". Man spricht dann von „Wellen" oder „Fluten" und dass man dringend etwas gegen den Klimawandel unternehmen muss, aber nicht, weil dieser den Planeten bedroht, sondern weil sonst Millionen von Klimaflüchtlingen vor der Tür stehen. Fakt ist allerdings, dass die meisten von diesen Menschen den Globalen Norden nie erreichen. Die allermeisten bleiben innerhalb ihrer Staaten, wie zum Beispiel in Indien. Und danach kommt die Migration in Nachbarstaaten. Die Forschung zeigt, dass unsere größte Sorge nicht angebliche Fluten von Klimaflüchtenden nach Europa sein sollten. Sondern mögliche Migrationsbewegungen innerhalb der Staaten, in einem Maße, das wir jetzt noch nicht vorhersehen können. Denn der Klimawandel stellt uns immer wieder vor das Problem, dass wir Prognosen haben, von denen die Realität abweicht.
Sie sagen, Klimaextreme katalysieren Probleme, die bereits vorhanden sind. Was heißt das?
Der Klimawandel ist ein gesamtgesellschaftliches und globales Problem. Die Staaten, die besonders betroffen sind, sind oft auch nicht so gut darin, sich an seine Folgen anzupassen, weil sie ökonomisch nicht so stark sind. Zum Beispiel weil die Staatlichkeit noch nicht so weit ausgeprägt ist oder autoritäre Strukturen herrschen. Ich finde es wichtig, darauf hinzuweisen, welche Rolle die koloniale Geschichte Europas in diesen Strukturen spielt. Die koloniale Ausbeutung wirkt bis in die Gegenwart hinein und trägt dazu bei, dass ehemalige Kolonien weniger gute Chancen haben, sich an die Folgen des Klimawandels anzupassen. Zudem liegt die Verantwortung für die Folgen des Klimawandels bei den Staaten, die ihn hauptsächlich verursacht haben. Gruppen, die vorher schon marginalisiert waren, werden in einer Gesellschaft – insbesondere dort, wo politische Partizipation keine Selbstverständlichkeit ist – verstärkt unter dem Klimawandel leiden. Denn der Klimawandel erzeugt eine Krisensituation zusätzlich zu allen bereits bestehenden Krisen. Das ist auch der Grund, warum wir unbedingt über Immobilität sprechen müssen. Sogenannte gefangene Bevölkerungsgruppen haben nicht die Möglichkeit sich zu bewegen. Fakt ist: Migration ist teuer, das kann sich nicht jeder leisten.
Was bedeutet in diesem Kontext der Begriff „Klimagerechtigkeit"?
Die klassische Überlegung ist, dass Industriestaaten, die den Klimawandel hervorrufen, viel weniger von ihm betroffen sind. Und sie sind viel besser darin, sich ihm anzupassen. Diese Staaten helfen denjenigen, die am meisten vom Klimawandel betroffen sind nicht in angemessener Weise mit der Anpassung. Dieses Ungleichgewicht auszugleichen ist die Idee hinter Klimagerechtigkeit. Das ist nicht nur auf globaler Ebene zu denken, sondern auch innergesellschaftlich. Wer zieht zum Beispiel aus den jetzigen Verhältnissen Gewinn, und wer ist am meisten verwundbar? Das sind hochpolitische Diskussionen, insbesondere in kapitalistischen Systemen, weil betriebs- und volkswirtschaftliche Kräfte wirken, die eng mit politischen Entscheidungsfindungsprozessen zusammenhängen.
Instrumentalisierung des Klimawandels
Wird irgendwann der Großteil der Weltbevölkerung Richtung Globaler Norden streben?
Bis jetzt zeigen die Zahlen das nicht. Der aller größte Teil von Migrantinnen und Migranten bleibt innerhalb ihres Landes oder geht in die Nachbarstaaten. Und da der Klimawandel am meisten den sogenannten Globalen Süden betrifft, ist das auch der Teil der Erde, wo wir diese Bewegungen am meisten sehen. Das können wir empirisch belegen. Es gibt aber auch immer mal wieder Momente, wo diese Prognosen schlechter ausfallen. Wir sollten allerdings sehr viel stärker darüber nachdenken, was wir politisch mittragen, wenn wir von „Flüchtlingswellen" sprechen und welches Publikum damit angesprochen wird. Denn wenn aus dieser alarmierenden Sprache dann eine Abschottung resultiert, ist das für mich eigentlich eine Weiterschreibung kolonialer Ungerechtigkeiten. Die Instrumentalisierung des Klimawandels für unterschiedlichste Ziele ist meiner Meinung nach ein Grundproblem, mit dem wir uns auseinandersetzen müssen.
Sind die Betroffenen der Flut im Ahrtal, die ihre Heimat verlassen haben, dann nicht auch Flüchtlinge?
Eigentlich müsste man diese Menschen analog zu Menschen in Bangladesch, die von einer Flutkatastrophe betroffen sind und innerhalb ihres Landes von einem Dorf zum nächsten wandern, als Binnenflüchtlinge bezeichnen. Und genau da sind wir bei der Frage des Labelings. Denn ich glaube, die Menschen in Deutschland würden sich gegen eine solche Benennung absolut verwahren. Warum fällt es uns so leicht, Menschen in Bangladesch so zu nennen? Für uns selbst lehnen wir es aber ab? Diese Frage müssen wir uns stellen, wenn wir uns hin zur Klimagerechtigkeit bewegen wollen. Denn das bedeutet für mich auch, dieselben Maßstäbe anzusetzen.