Vertical Farming ist eine neue Anbauweise für Nutzpflanzen, die ganz ohne Ackerflächen auskommt und noch dazu sehr viel effizienter funktioniert als die klassische Landwirtschaft. Doch was steckt hinter dieser Idee und gibt es bereits funktionierende Beispiele?
Hinter dem Konzept des „Vertical Farming" verstehen Forschende einen neuen Ansatz, die aktuelle Erntekrise zu überwinden und ganz neue Wege bei der Versorgung der Stadtbevölkerung zu gehen. Statt auf Feldern wachsen Kräuter und Gemüse in vertikal angelegten Gärten, und das nicht etwa draußen in der Natur, sondern mitten in Fabrikgebäuden.
Der erste wissenschaftliche Ansatz zu diesem Konzept stammt von Dickson Despommier, Professor für Umweltgesundheit und Mikrobiologie. Er entwickelte gemeinsam mit Studenten bereits im Jahr 1999 an der Columbia-Universität (New York) seine ersten Entwürfe zu Dachgärten, die in der Lage sein sollten, 50.000 Manhattener mit Nutzpflanzen zu versorgen. In der normalen Anordnung der Pflanzen klappte das nicht, also kam die Idee auf, es mit übereinanderliegenden Anbauflächen zu versuchen. Nur zwei Jahre später waren erste Skizzen verfügbar und bis heute entwickeln mehr und mehr Wissenschaftler ausgereiftere Modelle dieser ersten vertikalen Gärten, deren Funktionsweise Despommier wie folgt beschreibt: „Jedes Stockwerk wird sein eigenes Bewässerungs- und Nährstoffüberwachungssystem bekommen. Sensoren messen dann die Nährstoffaufnahme jeder einzelnen Pflanze. Ebenso wird es Systeme geben, die den Ausbruch von Pflanzenkrankheiten überwachen. DNA-Chips sollen das Vorhandensein von Phytopathogenen messen, indem sie die Umgebungsluft stichprobenartig analysieren und mit Proben bakterieller und viröser Infektionen vergleichen." Sogenannte Gas-Chromatographen sollen helfen, den Reifezustand der Nutzpflanzen zu bestimmen und durch die Messung von Flavonoiden den Erntezeitpunkt festzulegen.
Moderne Technik, maximale Effizienz
Technologien wie diese stehen bereits zur Verfügung, es braucht also keine großen Innovationen mehr, um vertikale Farmen zu betreiben. Überhaupt ist die ganze Idee alles andere als neu, wenngleich sie heute dank modernster Technik effizienter umzusetzen ist. Schon bei den Naturvölkern Amazoniens war es üblich, übereinanderliegende Gärten anzulegen, um die zur Verfügung stehenden Flächen im Regenwald bestmöglich zu nutzen. In China knüpfen die bekannten Reisterrassen an diese Idee an. Vertikale Gärten bieten dabei nicht nur den großen Vorteil, besonders platzsparend zu sein, sie lassen sich auch viel effizienter bewässern. Das gilt insbesondere für Farmen, die sich mitten in der Stadt befinden. Vorläufer dieser Idee finden sich in den USA und in Asien. In Japan soll es Schätzungen zufolge mehr als 200 solcher Gärten geben. Diese sind oft Teil eines großen Unternehmens und dienen dazu, das Raumklima zu verbessern, kleine Oasen der Entspannung zu schaffen und gleichzeitig etwas zu ernten.
Eine ausgereiftere Form dieses Konzepts findet sich neuerdings in Dänemark. Der ehemalige Banker Anders Riemann wollte sein Geld sinnvoll anlegen und entschloss sich, in eine vertikale Farm zu investieren. Dazu gründete er sein Start-up „Nordic Harvest" und holte sich zur Unterstützung eine Spezialfirma aus Taiwan, „YesHealth Group", mit ins Boot. Die Farm selbst befindet sich etwa 20 Kilometer westlich der Metropole Kopenhagen, mitten in einem Industriegebiet. „Gerade jetzt mit Corona und dem Ukraine-Krieg wird klar: Die Lebensmittelversorgung ist angreifbar. Deshalb brauchen wir Lebensmittelproduktionen in den Städten als Teil der Infrastruktur", begründet Riemann seine Entscheidung für die größte vertikale Farm in Europa. Hier wachsen seit Anfang 2021 auf 7.000 Quadratmetern Spinat, Minze, Rucola, Basilikum und vieles mehr. Dafür stehen spezielle Pflanzschalen auf gleich 14 Etagen Anbauflächen zur Verfügung. Noch 2022 soll der Aufbau der Farm komplett abgeschlossen sein. Dann wachsen hier 20 Kräuter- und Salatsorten, außerdem zum Beispiel Beerenobst wie Erdbeeren. Ziel ist es, drei Tonnen davon zu ernten, pro Tag. Geliefert wird aktuell an Restaurants und Supermärkte in Dänemark. Die Vorteile liegen für den Geschäftsführer auf der Hand, wie er in einem Interview erklärt: „Wir können zu den gleichen Kosten produzieren wie ein dänischer Bauer auf dem Feld draußen. Aber wir ernten alle 22 Tage. Das heißt ungefähr 15 Ernten im Jahr. Während ein dänischer Züchter manchmal zweimal – und manchmal sogar nur einmal pro Jahr anbauen kann."
Damit das gelingt, kommt ausgeklügelte taiwanesische Technik zum Einsatz, unter anderem ein spezielles Wasserreinigungssystem, dessen Entwicklung allein zehn Jahre gedauert hat. Dadurch gelingt ein hydroponischer Anbau ohne Substrate. Der Wasserverbrauch insgesamt ist außerdem sehr gering, was wertvolle Ressourcen schont. Verbrauchswasser fangen spezielle Behältnisse wieder auf und führen es erneut dem Kreislauf innerhalb der Farm zu. Der Dünger für die Pflanzen ist hausgemacht mit niedrigen Nitratwerten. Das reduziert die Verunreinigung mit dem gefürchteten E.-coli-Bakterium erheblich. Die Pflege der Pflanzen übernehmen nicht Menschen, sondern Roboter. Die erledigen das Einbringen in nur 15 Minuten und transportieren das knackfrische Gemüse dann direkt ins Kühlhaus. Dadurch bleiben mehr Vitamine und Mineralstoffe erhalten als bei einer konventionellen Ernte. Einziger Wermutstropfen: der Energieverbrauch der Anlage. Die moderne LED-Technik, die in den Hallen dauerhaft das optimale Licht für das Pflanzenwachstum spendet, verfügt über 20.000 Leuchtelemente. Den Strom dafür liefert bei Nordic Harvest Offshore-Windkraft zu 100 Prozent klimaneutral.
Im US-Bundesstaat Pennsylvania entsteht aktuell die größte vertikale Farm der Welt. Hier plant das Unternehmen „Bowery" den Gemüseanbau auf mehreren Etagen. 23.000 Quadratmeter Grundfläche stehen insgesamt zur Verfügung. „Wir von Bowery sind in der Lage, Essen anzubauen, wo immer es gebraucht wird. Wir nehmen die Herausforderung an, durch unser System klügere Anbaumethoden zu nutzen und damit mehr Menschen in mehr Städten zu ernähren", wirbt der Gründer und CEO Irving Fain für sein neustes Projekt in Bethlehem, Pennsylvania. Und er weiß wovon er spricht, denn es ist bereits die dritte vertikale Farm, die sein Unternehmen eröffnen wird. Weitere sind in Planung.
In großer und kleiner Dimension möglich
Dass es auch kleiner geht, zeigt Berlin. Das Unternehmen „Infarm" entwirft Mini-Farmen, die in Supermarktabteilungen passen. Die Glasvitrinen haben eine Höhe von zwei Metern und verfügen über eine eigene Wasser- und Nährstoffversorgung. LED-Licht sorgt für optimale Wachstumsbedingungen. Gesteuert werden sämtliche Prozesse cloudbasiert über die Firmenzentrale. Sobald Erntezeit ist, kommen Gärtner direkt in die Filiale. Die Produkte wandern dann ohne Umwege gleich ins Regal und stehen für den Kunden so frisch wie nur möglich zum Kauf bereit.
Der nächste Schritt sind vertikale Farmen für den Hausgebrauch. Kleine hydroponische Gärten lassen sich über spezielle Substrat-Pods ausstatten. Darin befinden sich neben dem Nährsubstrat der Samen und die Zugänge für Wasser. Eine LED-Licht-Ausstattung ist mit dabei. Zur Auswahl stehen je nach Hersteller unterschiedliche Designs. Während man bei „Plant Cube" auf einen kleinen Kastenschrank für die Küche setzt, weiß der „Plantui Smart Garden" durch seine organische Form zu überzeugen.
Was so praktisch und nachahmenswert erscheint, hat nach wie vor zwei große Haken. Zunächst gilt es, die Energiekrise zu überwinden und die Farmen klimaneutral zu betreiben. Was in Dänemark dank Windenergie funktioniert, stellt andere Teile Europas vor große Herausforderungen. Auch entsprechende Gebäude zu finden, die für den Anbau infrage kommen, scheint sich schwierig zu gestalten. Unternehmen wie Bowery bauen sie neu, was natürlich mit deutlichen Mehrkosten verbunden ist. Außerdem können in den Etagen der Farmen keine Bio-Produkte wachsen. Dazu bräuchte es gemäß der Vorgaben der EU-Öko-Richtlinien einen bodenbezogenen ökologischen Landbau. So bleibt der Ertrag zwar groß und gesund, jedoch ohne spezielle Zertifizierung.