Großbritannien steht vor einem Führungswechsel. Rishi Sunak und Liz Truss kämpfen um die Nachfolge von Boris Johnson. Der hinterlässt ein Land in aufgeheizter Stimmung.
Am Anfang spielten Billigohrringe und ein Maßanzug die Hauptrolle im Kampf um den künftigen Posten des Regierungschefs in Großbritannien. Medien enthüllten, der Bewerber Rishi Sunak (42) trage 4.000 Euro teure Kleidung, während Mitkandidatin Liz Truss (47) sich mit Grabbeltisch-Ohrringen im Ramschwert von 5,30 Euro schmücke. Inzwischen leuchten die Wahlkampfscheinwerfer aber grell auf die wahren Probleme des Vereinigten Königreichs.
Diese Woche wird feststehen, wen die rund 160.000 Parteimitglieder der konservativen Partei (Tories) nach wochenlangem Urwahlmarathon als Nachfolger des glücklos abgetretenen Skandalpremiers Boris Johnson (58) favorisieren. Wird es Ex-Finanzminister und Johnson-Gegner Sunak? Oder kommt die Johnson-Getreue und Außenministerin Truss ans Ruder?
Wer auch immer das Rennen macht – nach der Ernennung durch Queen Elizabeth II. (96) warten große Herausforderungen. Den Menschen im Lande Ihrer Majestät geht es nicht rosig. Die Landesteile England, Schottland, Wales und Nordirland stolpern von Krise zu Krise: Erst Brexit, dann Corona und nun die Folgen des Ukraine-Krieges.
Zweistellige Inflation in einer Energiekrise
Experten erwarten ein Sinken des Bruttoinlandsproduktes (BIP) um fast die Hälfte auf 3,6 Prozent und im Jahr 2023 auf nur noch 1,4 Prozent. Parallel beginnt die Inflation zu galoppieren. Fast 19 Prozent könne die Geldentwertung im kommenden Jahr betragen, so Fachleute.
Landauf, landab, Tag für Tag haben „Rishi" und „Liz" in Bürgerrunden, Reden und TV-Debatten ihre Rezepte verkauft. Daraus schält sich hervor: Sunak steht eher für Steuersenkungen und Staatskredite. Die bereits als „Neue Eiserne Lady" gelabelte Truss hingegen setzt eher auf Härte.
Einig sind sich die Bewerber um das einflussreichste politische Amt der Monarchie in der Finanzpolitik. Mit ihnen könnte es zu einem „Big Bang 2.0" für die Geldbranche in der Londoner City kommen. Gemeint ist weitere Deregulierung eines bereits entfesselten Wirtschaftszweiges – notfalls gegen die eigentlich unabhängige Aufsichtsbehörde, also die Bank of England. Hier droht ein harter Konflikt.
Konfrontation dräut ebenso mit dem mächtigen Gewerkschaftsbund TUC. Dessen Chefin Frances O’Grady fordert höhere Gehälter, weniger Arbeitszeit und längeren Elternurlaub – das sei alles unverzichtbar und nicht nur „nice to have". Außerdem müsse der chronisch kranke staatliche Gesundheitsdienst NHS neu belebt werden.
Gemeinsam ist den Bewerbern die antieuropäische Rhetorik – die EU ist für sie eine Wurzel allen britischen Übels. Die Beziehungen mit dem Block als größtem Handelspartner dürften weiter zum Zerreißen gespannt bleiben. Liz Truss, die während der Austrittskampagne noch mit Verve für den EU-Verbleib gekämpft hatte, will plötzlich nur noch Vorteile des Brexits erkennen. Rishi Sunak prangert „gesichtslose Regulierer" vom Kontinent an, die das souveräne Parlament des Inselstaates drangsalierten.
Unterdessen schlägt die Energiekrise zu – und das, obwohl Großbritannien eigenes Öl und Gas vor seiner Nordseeküste fördert. Die Johnson-Regierung hatte die Folgen des russischen Angriffs auf die Ukraine unterschätzt. Denn anders als die Festlandseuropäer, die rund 40 Prozent des Gasverbrauchs aus Russland leiten, ist das Vereinigte Königreich nur zu vier Prozent von Putin abhängig.
Dennoch drückt der Preisdruck in den Pipelines auch das Land zwischen Ärmelkanal und Shetland-Inseln. Marktforscher kalkulieren: Die Heizkosten und Stromrechnungen im Durchschnittshaushalt werden um das Drei- bis Vierfache durch die Decke gehen. Die Hälfte aller Haushalte könne in energiekostenbedingte Armut fallen. Kleine und mittlere Unternehmen müssten mit einem Strompreis-Plus um das Siebenfache rechnen.
Das ruft die oppositionelle Labour Party und die Gewerkschaften auf den Plan. Sie malen den schwarzen Peter an die Wand: Einkommensschwache Haushalte hätten nur noch die Wahl zwischen „heating or eating" (heizen oder essen).
Die neue Regierung in London wird den Spagat schaffen müssen, einerseits die eher national gestimmte konservative Parteibasis bei Laune zu halten, und andererseits die ganze Nation im Auge zu behalten. Der Unmut steigt. Laut Umfrage erwarten mehr als 40 Prozent der Befragten demnächst soziale Unruhen. Die Kampagne „Don’t Pay UK" (Nicht zahlen) wirbt erfolgreich für einen Zahlungsboykott gegen Strom- und Gasrechnungen.
Persönlich gesehen sind die in der Wolle konservativ gefärbten Kontrahenten – abgesehen von ihren Accessoires – grundverschieden. Truss wirkt hölzern, wenig redebegabt, ist aber politisch wendig. In den vergangenen zehn Jahren leitete sie mehrere Kabinettsämter unter drei Premierministern – ein Ausweis als formbare Mehrzweckwaffe.
Die bodenständige Truss ist das Herzblatt der konservativen Parteibasis. Die ist überwiegend ältlich, überwiegend männlich und überwiegend eher rechtsgerichtet. Und auf diese kam es bei der Werbetour an.
Der bisweilen sunnyboymäßig wirkende Sunak ist der smarte Liebling großer Teile seiner Fraktion und des britischen Geldadels. Als Finanzminister war er nach Johnson der zweitmächtigste Mann im Staate. Die Gewerkschaften weiß er zu umgarnen – ein wichtiger Punkt im Wettbewerb mit der sozialistischen Labour Party unter Oppositionsführer Keir Starmer (60).
Was Truss fehlt, das hat Sunak: Glamourfaktor. Der gutaussehende Sohn indischer Einwanderer – die Mutter war Apothekerin in Southampton – ist mit Milliardärin Akshata Murthy (42) verheiratet. Die indische Staatsbürgerin ist Erbtochter von Narayana Murthy, dem „Steve Jobs Indiens". Der schuf mit nur 250 Dollar Startkapital mit Infosys das erste in den USA börsennotierte Weltunternehmen. Sunaks Schwiegermutter Sudha ist eine Philanthropin, Pionierin der Frauenrechte und Schriftstellerin.
Boris Johnson arbeitet an seinem Comeback
Interessant: Der zweifache Vater Sunak ist bekennender Hindu. Seinen Amtseid leistete er auf die Bhagavad Gita, die zentrale Schrift des Hinduismus. Diesem Glauben gemäß ist Sunak strikter Abstinenzler. Der Hinduismus hat rund eine Milliarde Anhänger und umfasst etwa 15 Prozent der Weltbevölkerung. Er ist nach Christentum und Islam die drittgrößte Religionsgruppe der Erde. Sunak wäre der erste nichtchristliche Politiker in 10 Downing Street.
Wen Königin Elizabeth als 15. Premier ihrer Ära vereidigt steht vor gewaltigen Aufgaben. Innenpolitische Geschenkzusagen wie außenpolitische Kampfansagen kommen in den Realitätscheck. Denn: „Der nächste Premier darf sich nicht auf Schlagzeilen beschränken", warnt der Think-Tank ECFR.
Und was macht der nur bis Freitag amtierende Premierminister Boris Johnson? Der bastele am Comeback, berichten Insider. Die Wunschkandidatin des chaotischsten Regierungschefs der britischen Geschichte sei Liz Truss – aus egoistischen Motiven. Johnson halte sein Amt für zu groß für die schmale Politikerin. Sie werde scheitern und so ihm als starkem Mann zum Comeback verhelfen. In seiner Abschiedsrede hatte „BoJo" wenig taktvoll gewitzelt: „Hasta la vista, Baby!" („Auf Wiedersehen, Baby!").