Massiv gestiegene Mieten, explodierende Energiekosten, Lebensmittelpreise so hoch wie nie. Deutschland steht vor einer sozialen Frage wie seit 70 Jahren nicht mehr – für Gewerkschaften eine zusätzliche Herausforderung.
Anfang Mai dieses Jahres hatte es Yasmin Fahimi endgültig geschafft: Als erste Frau wurde sie zur obersten Gewerkschafterin gewählt. Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Die 54-jährige Sozialdemokratin steht damit an der Spitze von gut 5,7 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern innerhalb der acht Einzelorganisationen. Wobei die Mitglieder-Tendenz in den letzten 30 Jahren massiv sinkend ist. Eine der Ursachen: Tarifgebundene Arbeitsverhältnisse werden immer weniger. Nach der Wiedervereinigung waren es 1991 fast zwölf Millionen Mitglieder. Diese Zahl hat sich innerhalb von zwei Generationen halbiert, damit scheint auch der politische Einfluss der Gewerkschaften immer weiter abzunehmen. Dieses Schicksal teilen sie mit anderen Großorganisationen, die Gesellschaft hat sich gewandelt, das Individuum ist in den Mittelpunkt gerückt. Dauerhaftes organisiertes Engagement ist aber auch wegen der zunehmenden freiwilligen oder geforderten Flexibilität schwieriger geworden.
Yasmin Fahimi und ihre Mitstreiter haben also ohnehin alle Hände voll zu tun – und stehen in diesem Herbst vor einem zusätzlichen Dilemma. Die Gemengelage hat sich gerade in den letzten Wochen zu einer echten Herausforderung für die Gewerkschaften entwickelt, wie die jüngsten Tarifverhandlungen zeigen. Die Mitglieder der größten Einzelgewerkschaft, der IG-Metall, wollen 8,2 Prozent durchsetzen.
Mehr Geld, aber weniger Kaufkraft
Die zweitgrößte Einzelgewerkschaft Verdi fordert mindestens fünf Prozent Lohnerhöhungen. Die Begründung dieser Ansprüche ist leicht nachvollziehbar. In Anbetracht einer Inflationsrate von über acht Prozent wollen die Einzelgewerkschaften zumindest einen „beinahe- Inflationsausgleich" erreichen, alles andere wäre ihren Mitgliedern nicht mehr zu vermitteln. Doch umgekehrt müssen sich dann die Arbeitnehmervertreter von Bundeskanzler Scholz den Vorwurf gefallen lassen, dass mit diesen Lohnforderungen automatisch die Inflation noch weiter angetrieben werde. Denn Tariflohnerhöhungen über fünf Prozent würden am Ende auch wieder bei den Verbrauchern landen.
IG-Metall-Chef Jörg Hofmann hält dagegen: „Es geht doch für unsere Mitglieder gar nicht mehr um eine Lohnerhöhung, sondern nur noch darum, ihren Lebensstandard überhaupt noch halten zu können". Der 66-jährige Diplom-Ökonom aus Baden-Württemberg fordert deswegen, statt Arbeitnehmer erneut zum Verzicht aufzurufen einen staatlichen Preisdeckel für Gas und Strom zu beschließen. Eine Forderung mit Widerhaken. Staatlich kontrollierte Preise auf Energie würde heißen, dass alle Steuerzahler für die Deckelung der hohen Energieeinkaufspreise auf dem Weltmarkt aufkommen müssten, damit die IG-Metaller ihre acht Prozent mehr Lohn bekommen. Doch Hofmann hält auch da dagegen: „Die Menschen könnten im Gegensatz zu vielen Unternehmen die massiven Preissteigerungen nicht weitergeben. Gleichzeitig müssen sie erleben, wie mit Steuermilliarden etwa Energiekonzerne subventionieren sollen."

Damit trifft der starke IG-Metall- Boss einen wunden Punkt innerhalb des Deutschen Gewerkschaftsbundes. Berechtigte Forderungen nach einem Inflationsausgleich der Lohngruppen gegenüber staatlichen Hilfsmaßnahmen für Unternehmen. Seine DGB-Vorsitzende hatte zwei Tage vorher die Debatte um die Gasumlage auch gewerkschaftsintern angeheizt. Yasmin Fahimi hält die Gasumlage grundsätzlich für richtig. Für ihre Begriffe müssen die Versorger abgesichert werden, und es kann nicht „dem Marktzufall überlassen werden, wer als Gaskunde wie stark noch mal zusätzlich zu den allgemein steigenden Preisen belastet wird. Deswegen ist das schon in der Sache nachvollziehbar."
Mit dieser Aussage gerät die DGB-Chefin erneut ins Visier des linken Flügels der Einzelgewerkschaften. Schnell relativierte Fahimi: „Gibt es Mitnahmeeffekte, muss das korrigiert werden. Doch weiter müssen wir schauen, wie eigentlich eine insgesamt konsequente Entlastung der Privathaushalte erfolgen kann."
Das Herbst-Dilemma bleibt: Sind in Anbetracht von explodierenden Energie- und Lebenshaltungskosten hohe Lohnforderungen nicht noch ein weiterer Treiber der Inflation? Arbeitgeber werden dem zustimmen, die Arbeitnehmer selbstverständlich nicht. Die Wahrheit liegt vermutlich im Detail und der Ausgestaltung von Maßnahmen.
Die Geschichte um die Gasumlage ist dafür ein beredtes Beispiel.
Höhere Löhne als Inflationstreiber?
Von den meisten im Kern befürwortet, aber in der Ausführung als „handwerklich schlecht gemacht" kritisiert musste sich Wirtschafts- und Energieminister Robert Habeck (Grüne) schließlich zu einer Korrektur durchringen.
Auffällig in diesen elementaren sozialpolitischen Debatten ist die Zurückhaltung von Bundesarbeitsminister Hubertus Heil in den letzten Wochen. Vom SPD-Mann hört man nicht viel, außer dass sein Ministerium mit Hochdruck an der Umwandlung von Hartz IV in ein Bürgergeld ab dem kommenden Januar arbeitet. Obendrein soll die Grundsicherung deutlich erhöht werden. Was wieder Wasser auf die Mühlen der Gewerkschaften ist. Auch eine erhöhte Grundsicherung könnte unterm Strich die Inflation antreiben, damit wären die Lohnforderungen zum Beispiel von IG-Metall und Verdi also eher bekräftigt.
Grundsicherung und Bürgergeld sind nicht die eigentliche Aufgabe der Gewerkschaften, ganz im Gegenteil. Die wollen, dass ihre Mitglieder vernünftig entlohnt werden und eben nicht auf zusätzliche staatliche Transferleistungen angewiesen sind.
Darum wird auch die Ausweitung des Kreises der Wohngeldberechtigten bei den Gewerkschaftlern kritisch gesehen. „Es kann nicht sein, dass beide Eltern den ganzen Tag arbeiten gehen und dann noch zum Amt rennen müssen, damit sie mit ihren Kindern im Warmen Abendbrot essen können", bringt es ein alter Gewerkschafter bei einer der ersten Inflations-Demonstrationen am Brandenburger Tor in Berlin auf den Punkt. Die Gewerkschaftsführung hält sich aus dieser Debatte lieber raus, schnell könnte die Kontroverse in eine unkontrollierte Schieflage geraten: Tariflohn- gegen Transfer-Bezieher.
Weiteren Diskussionsstoff liefert der Mindestlohn, doch die Debatte findet im DGB nicht, noch nicht statt. Eine Urforderung der Gewerkschaft wird am ersten Oktober erfüllt: garantiert zwölf Euro pro Stunde. Arbeitsminister Hubertus Heil jubelte noch vor der parlamentarischen Sommerpause um Bundestag. „Das gab es noch nie, eine Lohnerhöhung von 22 Prozent für Millionen Arbeitnehmer". Erst korrigierten die Gewerkschaften die Aussage des Arbeitsministers nach unten: nicht 22, sondern, wenn man wohlwollend rechnet, 15 Prozent Lohnerhöhung für die unteren Lohngruppen. Doch die Steigerung wird, kaum dass sie in Kraft getreten ist, in diesem Winter nun vollends von den gestiegenen Energiekosten aufgefressen. Linken-Chefin Wissler ist den Gewerkschaften schon einen Schritt voraus. „Die zwölf Euro reichen nicht aus, es müssen nun mindestens 14 Euro sein, und dann muss beim Mindestlohn ein automatischer Inflationsausgleich eingebaut werden". DGB-Chefin Fahimi hält sich diesbezüglich zurück und will erst mal die Wirkung des zwölf-Euro- Mindestlohns abwarten. Also dann doch Mindestlohn mit Wohngeldberechtigung, wird diese Haltung von Fahimis Kritikern im DGB verstanden.