Tierische Lebensmittel einfach durch vegetarische Varianten ersetzen, selbst Gemüse anpflanzen oder doch lieber beim Einkauf zu regenerativen Produkten greifen? Der Wettbewerb um das Geschmackserlebnis ist in vollem Gange, weiß Hanni Rützler.
Ernährung ist simpel. Sollte man meinen. Es kann ja wohl nicht so schwer sein, im 21. Jahrhundert wissenschaftlich festzustellen, was der menschliche Körper braucht, um gesund und leistungsstark zu sein und es bis ins hohe Alter zu bleiben. Tatsächlich gibt es ja beispielsweise die bekannte Ernährungspyramide, wie sie etwa von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) propagiert wird, die genau das will: Uns sagen, wie wir uns auf wissenschaftlich fundierter Grundlage gesund ernähren sollen. Aber schon darüber wird teils heftig diskutiert. Fragen des Geschmacks sind dabei noch gar nicht ins Spiel gekommen.
„Entwicklung von immer raffinierteren Ersatzprodukten"
Kein Wunder also, dass auch unsere Ernährung mehr oder weniger stark Trends unterliegt. Jedenfalls, wenn man nicht zu der Fraktion „Ich esse alles, was mir schmeckt" gehört.
Dabei kann man die drei großen Langzeittrends „Bio, vegetarisch, vegan" eigentlich schon außen vor lassen, denn sie haben bereits Eingang in das Essverhalten weiter Teile der Bevölkerung gefunden. Allerdings entwickeln sich immer neue Ausprägungen. So sieht die Foodtrend-Forscherin Hanni Rützler, die sich seit über zehn Jahren mit den Entwicklungen auf dem Food-Markt und bei der Ernährung beschäftigt, etwa gerade den Trend „Veganizing Recipes". Ein überwiegender Teil der traditionellen Rezepte, die die deutsche, schweizerische und österreichische Küche ausmachten, basierten auf tierischen Lebensmitteln –
neben Fleisch und Wurst eben auch auf Eiern, Milch und Käseprodukten, so Rützler. „Darauf wird mit der Entwicklung von immer raffinierteren Ersatzprodukten reagiert, um traditionelle Gerichte ‚veganisieren’ zu können", erklärt Rützler. Auch in Kochbüchern und auf Rezept-Plattformen finden sich vermehrt Anleitungen, um klassische Speisen „tierfrei" zuzubereiten. Neben Hightech-Ersatzprodukten kommen dabei verstärkt auch natürliche Zutaten wie Pilze, Kräuter, Hülsenfrüchte oder Algen zum Einsatz, um die Gerichte geschmacklich überzeugend zu adaptieren. Dabei steht die „Veganisierung" noch ziemlich am Anfang. Doch Rützler wagt eine Prognose: „Vegane Alternativen bestimmter Traditionsspeisen werden zum Standard unserer kulinarischen Repertoires werden. So wie Chili sin Carne inzwischen genauso anerkannt ist wie Chili con Carne, wird es weitere Klassiker aus den verschiedensten Küchen geben, die sich als gleichwertige Alternativen durchsetzen."
Auf regenerative Lebensmittel achten
Von Köttbullar über Kimchi bis hin zu Kohlroulade kristallisieren sich schon einige vielversprechende vegane Varianten auf den Rezeptforen und -blogs dieser Welt heraus. Dabei überzeugen längst nicht alle veganen Varianten von bekannten Gerichten oder Zutaten. Doch der Wettbewerb um das Geschmackserlebnis, das dem Original am ähnlichsten ist – oder es sogar übertrifft – sei bereits in vollem Gange, so Rützler.
Als derzeitig übergeordneter Mega-trend hat sich das Thema Nachhaltigkeit etabliert. Die Nachhaltigkeit wird das Ernährungsgeschehen auf unabsehbare Zeit bestimmen und dabei immer wieder neue Micro-Trends hervorbringen, die sich zum Teil etablieren, zum Teil aber auch schnell wieder verschwinden werden. Zumal Corona einen erheblichen Einfluss auf den Food-Markt und unser Ess- und Einkaufsverhalten hat.
So hat sich etwa während des Lockdowns ein Trend zu den klassischen Hauptmahlzeiten zu Hause, Frühstück, Mittagessen, Abendbrot, entwickelt, während der Trend zu schnellen Snacks gelitten hat. Es gab ein Revival des „Selberkochens" und „gemeinsamen Essens", gleichzeitig profitierten aber auch Lieferdienste. Neu bei Letzterem war, dass man sich sogar Menüs aus der Sterne-Küche nach Hause bringen lassen konnte. Pandemiebedingt rückten DIY-Trends wie „Private Gardening" oder „Local Exotic", der Eigenanbau auch exotischer Früchte, stärker in den Fokus, weiß Rützler.
Einer der wichtigsten derzeitigen Trends nicht nur bei der Ernährung, sondern in der Gesellschaft allgemein, der in diese Rubrik fällt, heißt No oder Zero Waste – einfach gesagt, die Vermeidung von Abfall und das Bewusstsein für die Folgen des Konsums.
Für die Ernährung bedeutet das nicht nur weniger Verpackungsmüll, mehr Unverpackt-Läden (die allerdings derzeit stark unter den Folgen der Pandemie leiden), Einkauf beim Bauern, Direkt-Vermarkter et cetera. Die Ernährung soll so ausgerichtet werden, dass vermieden wird, Unmengen an Lebensmitteln wegzuwerfen. Denn laut Bundesministerium für Ernährung und Landwirtschaft werfen die Bundesbürger pro Kopf im Jahr durchschnittlich 55 Kilogramm Lebensmittel in den Müll. Erster Schritt, um dies zu vermeiden: Es sollte immer nur das gekauft werden, was schnell verarbeitet und verbraucht werden kann.
Auch Sharing-Konzepte können zur Müllvermeidung beitragen, ebenso wie die bereits erwähnten Trends zur Selbstversorgung. Bei der Resteverwertung hilft das Internet: Es ist voll mit Tipps und Rezepten zur schmackhaften Verwertung von Resten oder Produkten wie überreifem Obst, die man sonst wegwerfen würde.
Generell ist aber zu bedenken, dass auch pflanzliche Lebensmittel oder Ausgangsprodukte für vegane Gerichte eine schlechte Energie- und Nachhaltigkeitsbilanz haben können, wenn sie auf eine nicht-regenerative Weise angebaut werden, die zu viel Wasser verbraucht und die Humusschicht der Böden reduziert. Eine regenerative Lebensmittelerzeugung dagegen kann, auch unter Einbeziehung einer extensiven Tierwirtschaft, die Treibhausgasemissionen reduzieren. Zwar ist „Regenerative Food" noch eher ein Nischentrend, der aber für eine Diversifizierung der von uns verzehrten Pflanzenarten und damit für mehr Abwechslung auf den Tellern sorgt. Vor allem in der Spitzengastronomie sind derartige Produkte gefragt.
Apropos Produkte. Die Foodtrend-Forscherin kennt auch die Trend-Lebensmittel dieses Jahres. Für sie zählen Insekten dazu, die aus Asien stammende Zitrusfrucht Yuzu und Kurkuma. Das Gewürz ist zwar keine Neuheit, wird aber wahrscheinlich in Verbindung mit „Local Exotic" bald auch im mitteleuropäischen Raum verstärkt angebaut.