Die neue britische Premierministerin will trotz Energie-Krise Steuern senken
Die britischen Konservativen haben es mit der Frauenpower. Nach Maggie Thatcher und Theresa May stellt das Vereinigte Königreich zum dritten Mal eine Premierministerin: Liz Truss ist die Nachfolgerin von Boris Johnson. Doch der Sieg bei der Mitgliederbefragung der Tory-Partei war ein Spaziergang im Vergleich zu den Herausforderungen, die sie nun stemmen muss. Die wahren Schwierigkeiten kommen erst jetzt. Vor ihr steht ein Problemberg von den Ausmaßen des Mount Everest.
Zunächst muss die 47-Jährige Vertrauen zurückgewinnen. Ihr Vorgänger Johnson verhedderte sich in einem Netz aus Lügen, Entgleisungen und Schlendrian, was in der Bevölkerung für immer mehr Verdruss sorgte. Truss blieb bis zuletzt loyal zu ihm. Das brachte ihr den Beifall an der Parteibasis ein, schürte aber Misstrauen bei vielen Briten.
Bei der Lösung der Herkulesaufgabe unserer Zeit, der Energiepreis-Krise, hat die künftige Regierungschefin vor allem Ladenhüter zu bieten. Ihr Standard-Rezept für alles lautet Steuersenkungen. Sie begreift sich als Ultraliberale, die am liebsten Steuern und Abgaben rasiert sowie die Vorschriften für Unternehmen kippt. Der freie Markt soll alles richten – insofern vertritt sie in Anlehnung an die „Eiserne Lady" ein Programm Thatcherismus 2.0.
Angesichts einer Inflationsrate von fast 13 Prozent hieße die Truss-Methode jedoch, Benzin ins Feuer zu gießen. Bereits am 1. Oktober steigt der Preisdeckel für Strom und Gas um 80 Prozent – für viele Menschen bedeutet das eine abschüssige Bahn Richtung Armut.
Beim Brexit-Kurs dürfte die Neue in der Downing Street noch härter auftreten als ihr Vorgänger Johnson. Im Wahlkampf zündelte sie – etwa mit der Äußerung, es sei nicht sicher, ob der französische Präsident Emmanuel Macron „Freund oder Feind" sei. Das Gefährliche an diesem Kurs: Wie Johnson prügelt Truss verbal auf die EU ein und malt ein Märchenbild von Großbritanniens Aufstieg. Die Realität mit sinkendem Wirtschaftswachstum, langen Lkw-Schlangen an der Grenze und einem Wust von Zollformalitäten wird ausgeblendet.
Gut möglich, dass Truss mit Blick auf die galoppierenden Preise einen Rückzieher machen muss und ein milliardenschweres Hilfspaket auflegt. Wenn es so käme, würde sie allerdings ihr Image als lupenreine Wirtschaftsliberale beschädigen. Das ginge zulasten
der Autorität.
Es wäre nicht das erste Mal, dass Truss eine 180-Grad-Wende hinlegt. Vor dem Brexit-Referendum im Juni 2016 ergriff sie leidenschaftlich Partei gegen den EU-Austritt. Ihre Warnungen von damals sollten sich als berechtigt erweisen: mehr Bürokratie, weniger Zugang zu europäischen Märkten. Der britischen Wirtschaft stehe eine „verschwendete Dekade" bevor, mahnte sie. Als die Volksabstimmung durch war, wechselte sie die Position.
In jungen Jahren war Truss eher links. Die Tochter einer Anti-Atomwaffen-Aktivistin skandierte auf Friedenscamps „Maggie, Maggie, Maggie – out, out, out!" An der Universität Oxford gehörte sie noch der Liberaldemokratischen Partei an. Sie hielt flammende Reden für die Abschaffung der Monarchie, bevor sie 1996 den Konservativen beitrat. „Ihr herausragender Charakterzug ist die Fähigkeit, ohne mit der Wimper zu zucken, eine leidenschaftliche Überzeugung durch eine andere zu ersetzen", beschrieb Truss ehemaliger Politik-Professor Marc Stears ihre chamäleonhafte Anpassungsfähigkeit.
Mit ihrer Geschmeidigkeit schaffte es Truss, unter so gegensätzlichen Politiker-Typen wie David Cameron, Theresa May und zuletzt Boris Johnson zu dienen. Zwar sammelte sie reichlich Kabinettserfahrung – so war sie Ministerin für Landwirtschaft, Justiz, internationalen Handel und Außenpolitik. Ihre Auftritte sind allerdings eher spröde, ihre Reden langweilig. Dafür hat sie ein erstaunliches Geschick für Inszenierung und Polit-Vermarktung. So posierte sie ähnlich wie Thatcher auf einem Motorrad, einem Panzer oder mit Pelzmütze auf dem Roten Platz in Moskau.
Der alte Machttaktiker Boris Johnson wird das in aller Ruhe von der Seitenlinie beobachten. Er behält sein Abgeordnetenmandat, dürfte aber eventuelle Fehler seiner Nachfolgerin bissig kommentieren. Sollte Truss scheitern, stünde er sofort bereit. „Hasta la vista, baby", hatte er bei seiner letzten Parlamentsrede bereits angekündigt.