Er ist 192 Kilometer lang, unterteilt in zehn Etappen und streift drei Länder: Der Fernwanderweg „Peaks of the Balkans" führt mitten durch die südlichen Ausläufer der Dinariden, die Albanischen Alpen, und bietet ein etwas anderes Höhenerlebnis.
Gerade wurde die Zeit angehalten. Und dann zurückgedreht. Alles ist weg: Die Rooftop-Bars, deren Balkanbeats mal die läutenden Kirchenglocken untermalen, mal den Ruf des Muezzins. Die vollen Cafés – Kaffeetrinken zu jeder Tages- und Nachtzeit ist hier anscheinend Nationalsport. Die vielen Menschen, Jung und Alt, die nach Sonnenuntergang durch die Fußgängerzone flanieren. Das bunte Wimmelbild der quirligen Stadt Shkodra ist längst Geschichte. Denn nun umgibt uns eine wildschöne Berglandschaft mit einer Geräuschkulisse, in der das Blätterrauschen und die Flötenklänge eines Schäfers die Tonspur liefern.
Seilbahnen gibt es hier keine
Gerade noch fast in Hörweite der Adria, jetzt mitten in den Albanischen Alpen: Nur knapp 60 Kilometer sind es von Shkodra bis zum Koman-See, dem Tor zu Europas ursprünglichster Bergwelt. Der Kleinbus braucht dafür trotzdem mindestens zwei Stunden, denn das Sträßchen ist schmal und schlängelt sich Kurve um Kurve in die Höhe. Auf einmal ist Schluss: Wer weiter in Richtung Valbona-Tal will, muss die Fähre nehmen. Erst ragen die Felsen wie in einem Fjord fast senkrecht aus dem Wasser. Das Ziel entpuppt sich letztlich als Paradies: Schroffe Gipfel, eiskalte Karstquellen, uralte Märchenwälder, Wiesen voller Orchideen.
Popadija, Taljanka und Arapi heißen einige der Berge, die am Himmel kratzen. Als Zweitausender sind sie zwar nicht besonders hoch, dafür aber schroff und steil. Seilbahnen wie in den Alpen gibt es hier keine – wer hoch auf die Gipfel will, schnürt die Wanderstiefel. Der Name der Region ist nämlich Programm: „Bjeshkët e namuna" nennt man in Albanien die südlichen Ausläufer der Dinariden – die „Verwunschenen Berge" haben sich durch die lange Abgeschiedenheit ihren Zauber bewahrt. Ganze sechs Tage soll Gott laut Schöpfungsgeschichte gebraucht haben, um die Erde zu erschaffen. Die wilden Albanischen Alpen aber, so die lokale Erzählung, sind das Werk des Teufels – aufgetürmt binnen weniger Stunden in einem höllischen Wutanfall.
Wer als Besucher hier unterwegs ist, fühlt sich dagegen eher im siebten Himmel. 192 Kilometer, zehn Etappen, drei Länder: Der Weitwanderweg „Peaks of the Balkan" im Dreieck von Albanien, Kosovo und Montenegro ist der populärste Trail der Region. „Unser Team war vor zehn Jahren an der Entwicklung der Route beteiligt", erzählt Ricardo Fahrig. Der Quedlinburger wollte ursprünglich als Weltenbummler einmal um den Globus reisen, blieb dann aber schon in Albanien hängen – und hat es bis heute nicht bereut. „Allerdings ist es nicht mehr ganz so einsam wie früher", meint er. „Orte wie Valbona und Theth waren früher unbekannt, zählen heute aber zu den wichtigsten Zielen auf dem Balkan."
An jedem Etappenziel des Weitwanderwegs gibt es heute einfache Unterkünfte. Da es in den Bergen keine Passkontrollen gibt, müssen bereits einige Wochen vor Beginn der Tour Genehmigungen für den Grenzübertritt beantragt werden. Das erledigt Ricardo Fahrigs albanisch-deutsche Reiseagentur Zbulo für Individualreisende, bietet aber auch geführte Touren an. „Unsere Gäste wandern nicht mehr die klassische Route, die inzwischen überlaufen ist. Es gibt inzwischen neue Varianten des Trails, bei denen man wenig auf Schotterstraßen unterwegs ist, während das Gepäck von Ort zu Ort transportiert wird."
Guide kennt das kulinarische Angebot der Almen
So wandern wir mit Menduh Zavalani auf alten Hirtenwegen durch das Gebirge und müssen uns nicht selbst darum kümmern, den Weg zu finden. Der sympathische Guide kennt in der Region nicht nur jeden Stein, sondern weiß zudem auch, auf welcher Alm es vermutlich frischen Joghurt mit wilden Blaubeeren gibt. Fündig werden wir bei Qamile Mulku, die auf ihrem kleinen Gehöft vier Milchkühe und vier Kälber umsorgt – die Schafe hat jüngst ein Braunbär gerissen.
Um die Ecke im Örtchen Doberdol werden die Blaubeeren zwar in großem Stil geerntet: Kistenweise bringt sie ein Unimog zu den Märkten im Tiefland. Doch für naschende Wanderer bleibt unterwegs trotzdem genug übrig. Doberdol, wo die Häuschen noch mit Holzschindeln bedeckt sind und Quellwasser das Bier kühlt, ist nur im Sommer besiedelt. Schon Ende September kann Schnee fallen, dann sind die Hirten mit ihren Tieren längst wieder im Tiefland. Oberhalb des abgeschiedenen Tals liegt Albaniens Grenze mit dem Kosovo und Montenegro: Im Herzen des Balkans fühlt man sich ziemlich weit weg vom Rest der Welt.
Früher war ein Besuch von Doberdol schon für Einheimische schwierig und für Ausländer unmöglich. Denn bis in die 1980er-Jahre war das sozialistische Albanien isoliert wie kein anderes Land in Europa. Die wenigen Besucher, die es in die Hauptstadt Tirana schafften, wurden vom Geheimdienst beschattet. Dresscodes gab es auch, um die neumodischen Trends des Westens zu bekämpfen: Wer als Mann eine Mähne hatte, dem wurden bei Einreise die Haare gekürzt. Ausgedacht hatte sich das Langzeitherrscher Enver Hodscha: Dem Diktator, der das Land mehr als vier Jahrzehnte kontrollierte, waren am Ende selbst die Verbündeten – China und die Sowjetunion – zu soft. Radio Tirana sendete Propaganda in die Welt, doch das Land wurde abgeriegelt.
Gäste sind im Land stets fürstlich zu bewirten
Das Albanien von heute setzt auf Tourismus, und die Einheimischen ziehen mit: Ihre Gastfreundschaft ist legendär. Englisch sprechen zwar nur die Jüngeren, doch manchmal klappt die Kommunikation auch ohne Worte. Einen Guide dabei zu haben, hilft natürlich trotzdem. Denn Menduh Zavalani hat Erfahrung mit Kanun, dem ungeschriebenen Ehrenkodex der Berge. „Besucher sind fürstlich zu bewirten – weswegen immer viel zu viel Essen auf den Tisch kommt." Lamm, gedünstetes Gemüse, Schafskäse, Fladenbrot, einen Raki als Verdauungsschnaps: Hungrig geht hier niemand zu Bett. Eine andere Tradition, die berüchtigte Blutrache, ist dagegen inzwischen Geschichte. „Der Turm im Örtchen Theth, in den Straftäter geflüchtet sind, bis die beteiligten Familien eine Lösung aushandeln konnten, ist jetzt ein Heimatmuseum."
Die letzte Etappe, von Vusanje in Montenegro zurück nach Theth in Albanien, ist so anstrengend wie spektakulär. Erst geht es durch ein weites Hochtal vorbei am Grenzstein und einem verlassenen Militärposten. Dann ist der prägnante Arapi zu sehen, der sich wie ein Zuckerhut aus dem Karst des Theti-Nationalparks erhebt. Pferde tragen unser Gepäck hinunter ins Tal, wir kraxeln hoch auf den Gipfel. Trittsicher und schwindelfrei muss man sein, Kondition braucht es auch. Oben angekommen, liegt einem Albanien zu Füßen. Und angesichts des Ausblicks über die 800 Meter abfallende Steilwand fühlt man sich wie im siebten Himmel.