Isabelle Huppert wird gern als „französische Garbo" oder „dunkle Meryl Streep" apostrophiert. Im wirklichen Leben hat sie den Ruf, sehr kühl, distanziert und verschlossen zu sein. Wir haben sie ganz anders erlebt.
Zum Interview kommt sie ungeschminkt, trägt nicht einmal Lippenstift. Und sagt auf Englisch mit charmant französischem Akzent: „Es gibt eben Leute, die verwechseln mich gerne mit den Frauen, die ich in gewissen Filmen gespielt habe. Natürlich waren auch ein paar sehr kalte und unnahbare, ja gefährliche Frauen dabei. Privat bin ich allerdings sehr romantisch und gefühlsbetont. Und habe sogar ein Faible für romantische Filme. Da bin ich nahe am Wasser gebaut."
Isabelle Huppert gehört zu den ganz großen Stars des europäischen Kinos. In über 100 Filmen hat sie sich nie auf einen bestimmten Typ festlegen lassen. Die Femme fatale gibt sie ebenso überzeugend wie die verletzte, leidende Frau. Sie ist Mörderin, Prostituierte, Anarchistin, Madame Bovary. Meist steht sie im Mittelpunkt des Geschehens. So auch in ihrem neuen Film „Die Zeit, die wir teilen" (startete am 31. August im Kino). Das Melodram, in dem es um Liebe, Schmerz und Sex mit einem Oktopus geht (Regie: Laurent Larivière), überstrahlt Isabelle Huppert einmal mehr durch ihr sinnlich-sprödes Spiel. Sie ist die in die Jahre gekommene Pariser Verlegerin Joan Verra, die versucht, mit ihrem Leben klarzukommen und ein für alle Mal Bilanz zu ziehen. Dabei kann sie sich anscheinend nicht immer auf ihre Erinnerung verlassen. Ist zum Beispiel ihre Liebesaffäre mit dem exzentrischen Autor Tim Ardenne (Lars Eidinger) real – oder doch nur ein Hirngespinst?
„Deshalb ist Kunst so wichtig"
Für Isabelle Huppert, die gern zugibt, ein Faible für seelisch gestörte und obsessive Charaktere zu haben, ist auch diese Rolle wieder eine große Herausforderung. Eine Herausforderung, durch die sie etwas lernen will: über sich, die menschliche Natur, das Leben. Und auf keinen Fall will sie sich wiederholen. „Für mich ist die Mischung aus Imagination und Man-selbst-Sein die Quintessenz der Schauspielerei. Ich trete vor die Kamera als ich selbst, mit meinem Aussehen, meiner Körpersprache, meiner Stimme und natürlich auch mit meiner Einstellung zur Rolle. Dann fühle ich mich in diese Rolle ein und spiele sie schließlich ganz auf meine Art. Diese Fantasien im Film ausleben zu können, tut mir sehr gut. Im wirklichen Leben muss man ja leider sehr oft Kompromisse machen. Da habe ich mich immer im Griff. Doch dabei kann sich schon mal Hass und Zorn aufstauen. Gerade deshalb sind Filme, Literatur und andere Kunstformen ja so wichtig und gut. Dadurch können wir nämlich sehr viele dieser angestauten Gefühle – übrigens nicht nur negative – wieder loswerden. Wenn wir uns wirklich darauf einlassen. Dann weinen wir im Kino oder lachen, sind traurig oder manchmal auch erregt."
Interessant ist, dass Frankreichs Grande Dame vor allem als Charakterdarstellerin gefeiert wird, dies aber letztlich als großes Missverständnis empfindet. „Natürlich will ich, dass die Frau, die ich im Film spiele, wahrhaftig ist. Viel spannender finde ich es allerdings, Geistesverfassungen und Gemütszustände darzustellen. Eine Figur auf eine ganz bestimmte Art und Weise zu porträtieren würde mich viel zu sehr einschränken. Natürlich gibt es im Film eine Story, Personen und Schauplätze. Aber ich spiele eher Situationen. Was ich damit meine, ist, dass ich zum Beispiel lache, weine, zornig bin, Sex habe, Wein trinke, rede, im Café sitze, eine Straße entlanggehe – eben all die verschiedenen Dinge mache, die man auch im wirklichen Leben macht. Und während ich das mache, bin ich ja auch nicht immer gleich gestimmt. Im Laufe eines Tages sind wir alle doch eine Vielzahl von Personen."
Isabelle Huppert wurde 1953 in Paris geboren und nahm schon im Alter von 14 Jahren am Conservatoire de Versailles Schauspielunterricht. Schon bald spielte sie kleinere Rollen am Theater und im Film. Mit dem Drama „Die Spitzenklöpplerin" hatte sie 1977 ihren internationalen Durchbruch. Seitdem dreht sie in schöner Regelmäßigkeit ein bis zwei Filme pro Jahr, darunter Meisterwerke wie „Violette Nozière" (1978), „Der Loulou" (1980), „Malina" (1991), „Biester" (1995), „Die Schule des Begehrens" (1998), „Die Klavierspielerin" (2001), „8 Frauen" (2002) und „Liebe" (2012). In den 80er-Jahren versuchte sie ihr Glück auch in Hollywood und spielte unter anderem in „Heaven’s Gate" (1980) – einem der größten Flops der amerikanischen Kinogeschichte. Sie drehte mit wichtigen europäischen Filmemachern wie Claude Chabrol, Jean-Luc Godard, Bertrand Tavernier, Claire Denis, Catherine Breillat, François Ozon und Michael Haneke. Parallel zu ihrer Filmkarriere übernahm sie auf französischen und europäischen Theaterbühnen Hauptrollen in Stücken wie „Maria Stuart", „Maß für Maß", „Der Gott des Gemetzels", „Orlando" und „Medea". Sie wurde mit vielen Preisen ausgezeichnet, darunter 1996 mit dem César (dem französischen Äquivalent des Oscars) als beste Darstellerin in „Biester" von Claude Chabrol. Außerdem gewann sie zweimal den Darstellerpreis bei den Internationalen Filmfestspielen in Cannes: 1978 für „Violette Nozière" und 2001 für „Die Klavierspielerin".
Isabelle Hupperts bislang größter künstlerischer Erfolg war ihr Mitwirken im dem Erotik-Thriller „Elle" (2016) von Paul Verhoeven („Basic Instinct"). Da ist sie Michèle, eine erfolgreiche Geschäftsfrau aus Paris, die in ihrer Wohnung von einem vermummten Mann vergewaltigt wird. Anstatt zur Polizei zu gehen, spürt sie den Vergewaltiger auf und beginnt mit ihm ein gefährliches erotisches Katz-und-Maus-Spiel, das mit einer überraschenden Wendung endet. Für diese mutige Rolle bekam sie zum zweiten Mal den César, als beste fremdsprachige Darstellerin einen Golden Globe und wurde erstmals für einen Oscar als beste Schauspielerin nominiert. Damit ist Isabelle Huppert – neben Catherine Deneuve – die erfolgreichste Schauspielerin Frankreichs.
„Das war wie eine Offenbarung"
Paul Verhoeven war übrigens der Grund, warum Isabelle professionelle Schauspielerin werden wollte. Sie erinnert sich: „Als junges Mädchen habe ich seinen Film ‚Türkische Früchte‘ gesehen, der mich sehr beeindruckt hat. Diese Mischung aus sexueller Freizügigkeit und menschlicher Tragik hat mich tief berührt. Seine Filme liefen in Frankreich ja fast ausschließlich in Bahnhofs- oder Porno-Kinos, was ich schlicht lächerlich fand. Denn er machte schon damals keine simplen Sex-Streifen, sondern Filme, die mit der Conditio humana zu tun hatten."
Isabelle Huppert war noch sehr jung, als sie zum ersten Mal feststellte, dass sie sich durch die Schauspielerei am besten ausdrücken konnte. „Als ich als Teenager mit der Schauspielerei anfing, habe ich das aus Lust am Spielen gemacht und gar nicht weiter darüber nachgedacht. Es machte mir einfach Spaß. Die erste Rolle, die mir wirklich unter die Haut ging, war die Spitzenklöpplerin. Da war ich Mitte 20. Das war wie eine Offenbarung für mich. Da habe ich zu ersten Mal begriffen, dass ich mit der Schauspielerei die Möglichkeit habe, meiner Seele einen Resonanzboden zu geben. Und dadurch mich – und das Innerste in mir – durch eine doch eigentlich fremde Figur auszudrücken. Fragen Sie mich aber jetzt bloß nicht: ‚Wie genau?‘ – Denn ich will das weder rationalisieren noch psychoanalysieren. Die Schauspielerei hat sehr viel mit Musik zu tun. Mit Rhythmus und Timing. Seltsamerweise viel mehr als mit Worten oder Bildern. In der Schauspielerei geht es eher darum zu sein, als darum, etwas zu tun."
Das klingt einfach. Ist es aber nicht. Jeder große Schauspieler verfügt natürlich über ureigene Instinkte und ein hohes Maß an Intuition, um auch eine kleine Geste, einen Augenaufschlag, eine scheinbar zufällige Berührung, entsprechend zu erfassen. Aber Isabelle Huppert will – und kann – viel mehr. Sie ist eine Vivisekteurin. Sie schaut sich die Menschen und das Leben sehr genau an. Und sie ist mutig genug, das, was sie beobachtet, nicht zu idealisieren oder weichzuzeichnen. Darin ist sie, neben Verhoeven, auch zwei ihrer anderen Lieblingsregisseure sehr ähnlich: Claude Chabrol und Michael Haneke. Doch sie ist bei diesem Beobachten aus der Distanz heraus nicht stehen geblieben. Sie agiert, greift ein. Wer oder was gab ihr die Sicherheit, dieses Wagnis einzugehen?
„Muss mich nicht abhängig machen"
Isabelle Huppert gibt Antwort: „In meiner Jugend habe ich Bücher von Simone de Beauvoir regelrecht verschlungen. Eine Zeit lang war sie sehr wichtig für mich. Sie hat mir sehr bei meiner Selbstfindung als Frau geholfen und mir sehr viel Selbstvertrauen gegeben. Durch sie habe ich gelernt, frei zu sein. Ohne Scheuklappen durchs Leben zu gehen. Sie hat mir gezeigt, dass es gut ist, selbstbestimmt zu sein. Und dass es auch okay ist, dabei allein zu sein. Oder sogar einsam. Natürlich waren die meisten ihrer Bücher sehr philosophisch und theoretisch. Aber ich erinnere mich noch gut daran, dass ich dachte: Oh, ich kann also auch glücklich werden, wenn ich allein bin. Ich muss mich nicht abhängig machen von einem Mann, einer Familie, einem Beruf, einer Karriere."
Und es ist sicher kein Widerspruch, dass sie seit 40 Jahren mit dem französisch-libanesischen Regisseur Ronald Chammah verheiratet ist und drei erwachsene Kinder hat. „Es ist gut, eine Familie zu haben und Vertraute und Freunde. Aber auch unter vielen Menschen kann man sich mitunter einsam und allein fühlen. Was ich damit sagen will, ist, dass eine gewisse Unabhängigkeit im Leben nichts Schlechtes ist und sogar glücklich machen kann."
Und wie würde wohl ein perfekter Tag im Leben von Isabelle Huppert aussehen? „Ich würde zuerst mal ganz lange ausschlafen. Denn vor allem bei Dreharbeiten ist man oft bis spät in die Nacht am Set und muss am anderen Tag wieder früh raus. Da habe ich meist ein chronisches Schlafdefizit. Also: Endlich ausschlafen. Dann würde ich im Café um die Ecke frühstücken, danach ins Kino gehen und mir ein oder zwei Filme anschauen."