Die Energiewende und der Klimaschutz sind angesichts internationaler Konflikte und der damit einhergehenden Energiekrise aktueller denn je. Doch auf nationaler und internationaler Ebene verzetteln sich die Regierungen in abstrakten Klimazielen und Maßnahmenkatalogen. Wie die Energiewende vor Ort gelingen kann, zeigt eine Kleinstadt im Fichtelgebirge.
Aus der Ferne sehen die mattgelben Haufen, die aus dem Asphalt emporragen, wie Sanddünen aus. Doch wer näher herangeht, erkennt die feinen Holzspäne, die sich auf dem Hof des Wunsiedler Energieparks haushoch auftürmen. Wenige Meter entfernt ergießt sich mit einem donnernden Ruck eine Ladung Holz-Hackschnitzel aus einem Laster. Der Geruch von frisch geschlagenem Holz und nasser Erde wabert über den Hof. „Das sind unsere Wipfel-Hölzer", sagt Marco Krasser, 49, Geschäftsführer der Wunsiedler Stadtwerke, „die gehen in die Verbrennung." Im nur wenige Meter entfernten Biomasse-Heizkraftwerk werden die in der Industrie sonst oft ungenutzten Baumspitzen und Zweige zu Strom. Doch statt die dabei entstehende Abwärme über Kühltürme ungenutzt in die Umwelt zu pusten, fließt die überschüssige Energie hier in die Produktion von Holzpellets. In drei dezentralen Kraftwerken werden die kleinen gepressten Holzstäbchen erneut zu Energie. Sie produzieren so viel Strom und Wärme, wie die Menschen vor Ort brauchen. „So entsteht aus Biomasse ein System aus Nahwärmenetzen für die angebundenen Ortsteile."
Erneuerbare Energie aus regionalen Quellen dort erzeugen, wo die Menschen sie brauchen – so sieht der Plan für die Energiezukunft der oberfränkischen Stadt Wunsiedel aus. Das Ziel: einen Energie-Kreislauf erschaffen. Ausgangspunkt ist der Rohstoff Holz. Die Kleinstadt mit ihren 9.200 Einwohnerinnen und Einwohnern liegt mitten im Fichtelgebirge. „Hinter uns hat sich ein Sägewerk angesiedelt, das aus Baumstämmen Bretter macht", sagt Marco Krasser. Die Reste aus der Holzproduktion des Sägewerks gelangen über ein Förderband in ein zweites Pelletwerk. „So können wir pro Jahr etwa 7.000 Lkw-Ladungen einsparen." Das Holz stammt von lokalen Bauern aus dem bayerischen Staatsforst und ein kleiner Teil auch aus tschechischen Wäldern – alles im Umkreis von 80 Kilometern. „Wir verwerten den Baum vom Wipfel bis zum Span, wollen keinen Abfall produzieren, sondern unsere Ressourcen bestmöglich nutzen." Noch nutzt das Werk Erdgas, bald soll auf grünen Wasserstoff umgestellt werden. Die Anlage ist bereits im Bau, derzeit die größte in Deutschland.
Die oberfränkische Stadt gilt als Blaupause für die Energiewende. Mit dezentraler Ressourcennutzung, Wind- und Sonnenenergie, neuen Speichertechnologien, Elektromobilität und grünem Wasserstoff treibt der Landkreis Wunsiedel die Energiewende im Eiltempo voran.
Die Klimawende von unten
Die Kleinstadt zeigt damit, wo unterhalb von Weltklimakonferenz und Bundesregierung eine Kraft der Veränderung entfaltet werden kann: Auf Ebene der Stadtteile, Städte und Gemeinden. Kürzere Entscheidungswege, direkter Kontakt mit der Bevölkerung, schnelle Umsetzung: Die „Klimawende von unten" hat Potenzial. Nicht nur in Deutschland hat man das erkannt. So tauscht sich beispielsweise schon seit Jahren ein weltweites Netzwerk aus Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern aus. Sie wollen die Wende zu mehr Nachhaltigkeit selbst in die Hand nehmen. Doch wie gelingt der lokale Wandel? Was treibt ihn an, was bremst ihn aus? Unternehmen und Politik müssen sich zusammenraufen, davon ist Marco Krasser überzeugt. Krasser, blaue Jeans, weißes Hemd, den obersten Knopf offen, sitzt im Konferenzraum der Stadtwerke, als er auf Lektionen aus den letzten 20 Jahren zurückblickt. So lange ist es her, dass er ein Konzept entwickelte, das die Kohlendioxidemissionen durch den Einsatz kohlenstoffarmer Energiequellen reduzieren sollte. Die lokale Politik zog mit. Nur beim Bau der Wasserstoffanlage erwies sich die Landespolitik zunächst als Bremse. „Sonst würden wir hier schon seit zehn Jahren Wasserstoff produzieren." Auch mit Entscheidungen auf Bundesebene hat der Energieexperte manchmal seine Probleme. Vor allem, wenn es um die lokale Versorgung mit erneuerbarer Energie geht. Da weiß Krasser, das lässt sich aus seinen Erzählungen heraushören, einfach besser Bescheid, was die Stadt braucht und stemmen kann.
Der Geschäftsführer der Stadtwerke gilt als Kopf des „Wunsiedeler Wegs", der weltweit für Aufsehen sorgt. „Aber ihm gefällt die Lobhudelei nicht", sagt Bürgermeister Nicolas Lahovnik, 32, „weil er zu bescheiden ist." Mit „Herzblut" habe Marco Krasser den Ausbau klimafreundlicher Energien vorangetrieben. „Sein unbedingter Wille und die Weitsicht, die Klimawende schon damals voranzutreiben, war für Wunsiedel ein Glücksfall." Bis 2030 wollen Stadt und Stadtwerke ein unabhängiges Energiesystem aufbauen, das vollständig auf Erneuerbaren Energien basiert. „Alle Anlagen sollen autark funktionieren, sodass wir unsere Bürgerinnen und Bürger auch bei einem Blackout in Europa weiterversorgen können", sagt Marco Krasser. Das könnte sein Lebenswerk werden. Und es zeigt eindrücklich, was die Klimawende im Lokalen braucht: Menschen die anpacken, die Visionen verfolgen – auch wenn es Jahrzehnte dauert.
Die Klimawende für alle
„Hohe Investitionen sind dafür oftmals gar nicht nötig", sagt Oliver Wagner, Co-Leiter des Forschungsbereichs Energiepolitik am Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie. Auch hochverschuldete Kommunen könnten den Klimaschutz vorantreiben. „Im Bereich des Ordnungsrechts können Städte viel machen, beispielsweise eine City-Maut oder offensive Parkraumbewirtschaftung einführen." Die Menschen hätten in Städten, deren Kassen leer sind, vermutlich sogar mehr Verständnis dafür als in reichen Städten, so der Wissenschaftler. Er bemängelt den fehlenden Mut der Verantwortlichen. Es sei an ihnen, die Möglichkeiten des Ordnungsrechts stärker zu nutzen. „In Bebauungspläne können beispielsweise städtebauliche Verträge untergebracht werden, die Energiestandards oder auch Energieträger für die Wärmeversorgung festgelegen. Jeder weiß, dass wir mit Erdgas unsere Klimaziele nicht erreichen werden."
Die kommunale Verwaltung als Vorreiter in der Energiewende? Unbedingt, sagt der Experte. Er verweist auf die „riesige Batterie an eigenen kommunalen Gesellschaften": Von Sparkassen über Energieversorgungsunternehmen bis hin zur kommunalen Wohnungswirtschaft mit hohem eigenen Gebäudebestand. Dort sollte nach Ansicht des Wissenschaftlers die Energiewende beginnen. „Wenn die Kommunen dort zeigen, dass sie nicht nur über den Klimaschutz reden, sondern auch etwas tun und ihn erlebbar machen, werden sie ihrer Vor- und Leitbildfunktion gerecht."
In Kommunen, in denen sich lokale Akteure aus Wirtschaft, Politik und Zivilgesellschaft zusammenschließen, sieht der Experte das größte Potenzial für neue Ideen. Wunsiedel ist für sein kollektives Engagement bundesweit bekannt. Das Erfolgsrezept der oberfränkischen Kleinstadt: Sie lässt die Bevölkerung teilhaben und vom Klimaschutz profitieren.
Die Klimawende als Glücksfall
Denn für die Bewohnerinnen und Bewohner von Wunsiedel war die lokale Wende zur Nachhaltigkeit ein Glücksfall. Die Stadt war einst für ihre Porzellanindustrie bekannt. Doch die Industrie starb aus, Arbeitsplätze gingen verloren, Menschen zogen weg. „Anfang der 2000er-Jahre steckte die Region in einer tiefen Depression", sagt Bürgermeister Lahovnik. Er sitzt neben Marco Krasser in einem Besprechungsraum des Energieparks. Die beiden sind ein eingespieltes Team, haben die Geschichte vom Aufstieg Wunsiedels schon oft erzählt. Im Zentrum der Erfolgsstory steht Marco Krasser. Doch der wiegelt ab. „Die Sterne standen günstig, und die Stadt hatte nicht viel zu verlieren", sagt er mit ernster Miene. Dann muss er doch schmunzeln, „und wenn es nicht geklappt hätte, dann hätten sie immerhin einen Schuldigen gehabt." Immer wieder verweist er auf die vielen Hände und Köpfe, die den Wunsiedler Weg möglich gemacht haben. Erst im Zusammenspiel mit dem damaligen Bürgermeister, dem Stadtrat und der Kommune sei aus der Idee ein Zukunftsprojekt geworden. „Die Stadt und die Region haben es geschafft, sich aus dem Sumpf herauszuziehen", sagt Bürgermeister Lahovnik, „heute ernten wir die Früchte."
Wunsiedel zeigt damit auch, was neben Menschen mit Ideen und der tatkräftigen Unterstützung und Beteiligung der Gesellschaft hilft, eine lokale Klimawende einzuläuten: eine Krise. Eine Sackgasse, die allen zeigt: So geht es nicht weiter. Denn erst in diesem Brachland scheinen die Keime besonders gut zu wachsen.
Einen Ort gibt es noch, den Nicolas Lahovnik gern zeigen möchte. Im gegenüberliegenden Pelletwerk steigt er mehrere Treppen hinauf. Im graumelierten Anzug und roter Krawatte wirkt er seltsam fehl am Platz. Doch er bewegt sich zielsicher durch das Werk, kennt jeden Knopf und jeden Lichtschalter. Freundlich grüßt er die Arbeiter in der Schaltzentrale. Dann steigt er eine letzte Treppe hinauf, reißt eine Tür schwungvoll auf und bleibt auf einer kleinen Plattform hoch oben stehen. „Das ist mein Lieblingsplatz", sagt er. Vor ihm liegt das über 4.000 Quadratmeter große Holzpellet-Lager. Der Geruch von Wald ist hier drinnen noch durchdringender als auf dem Hof. Über 180.000 Tonnen Pellets lagern hier jedes Jahr. Genug, um 36.000 Haushalte mit Strom zu versorgen. „Das ist ein Anblick, oder?", sagt Nicolas Lahovnik und breitet die Arme aus. „Da geht mir das Herz auf."