Regional, produktzentriert und qualitätsbewusst ist die neue Heimatküche, die eine jüngere Garde italienischer Gastronomen in Berlin mit Erfolg anbietet. Wer sich durch Street Food, Eis, Pizza und Pasta der neuen Art hindurchprobieren will, hat dazu in der Stadt reichlich Gelegenheit.
Wie es das Klischee will, ist Berlin Magnet für diejenigen, denen eine neue italienische Esskultur wichtig ist. „Italiener vermissen sehr, sehr das Essen aus ihrer Stadt und Region", sagt Antonio Tomasello, Inhaber von „Duo Sicilian Icecream".
Die Bundeshauptstädter profitieren von dieser kulinarischen Sehnsucht enorm. Auch der 35-Jährige mochte gutes, handwerkliches Eis wie in seiner sizilianischen Heimat ebenfalls nicht missen. „Ich habe mir gedacht, ich bringe Granita und Brioche hierher und schaue, wie ich es gut und besser mache."
Vegetarische und vegane Pizzen
Antonio Tomasello hatte vergleichsweise leichtes Spiel. Er ist Eismacher in zweiter Generation, sein Vater besaß Eiscafés im Münsterland. Der Sohn war regelmäßig zu Besuch und studierte schließlich Philosophie und Sprachwissenschaften in Deutschland und Portugal. Die frisch gemachte, kompakte Granita „mit 0 Prozent Luft" und wenig Zucker, so wie in der Heimat, und eine alte Eismaschine waren 2016 Ausgangspunkt für ein kleines Eis-Imperium mit inzwischen drei Filialen und eigenem „Laboratorio" in Berlin. „Mein Papa ist total happy, dass jemand die Eismacherei weiterverfolgt." Die Berliner auch. Die Schlangen vor den Läden sind fast immer lang, das Pistazieneis ist legendär.
Gabriele Iaconis vom „Spaccanapoli Nr. 12" im Friedrichshain wählte einen nicht weniger klassischen Weg. Der 37-Jährige ging gemeinsam mit seiner Frau nach dem Kulturmanagement-Studium in der Heimatstadt Neapel und Arbeit im Tourismus nach Berlin. „Wir wollten Auslandserfahrungen sammeln, die Situation in Neapel war relativ schwer, und wir wollten in eine große Stadt", sagt Iaconis. Deutschkenntnisse waren nach fünf Jahren Schulunterricht vorhanden. Berlin lag nahe – 2013 war die Stadt „noch relativ günstig und nicht zu voll".
Iaconis startete mit Gastro-Jobs und führte fünf Jahre eine Filiale einer Kette für Bowls und Wraps. 2021 wagte er zusammen mit Sergio Priore den Schritt in die Selbstständigkeit. Priore ist ebenfalls Neapolitaner und brachte Kocherfahrung und eine Ausbildung als Pizzaiolo mit. Er betreibt das Lokal „MedEATerranean Trip" nahebei. Iaconis wurde dort vom Gast zum Freund und schließlich zum „Kopf" der gemeinsamen Unternehmung. Im „Spaccanapoli Nr. 12" liegt ein Fokus auf vegetarischen und veganen Pizzen. „Pizza ist etwas Traditionelles, aber du kannst gut damit spielen", sagt Iaconis. So kommen auch ungewöhnlichere, selbst kreierte Saucen auf die Pizza – eine Champignonsauce, eine aus lila Kartoffeln, mit Friarielli oder eine Kürbiscreme im Winter.
Der studierte Bauingenieur Priore war Vielreisender. Er hatte 2013 bei seiner Ankunft in Berlin aber die Rezepte so mancher und nicht nur der eigenen Nonna im Gepäck: „Ich habe hier etwas von einer alten Oma und dort etwas von den Nachbarn gelernt." Mit seinem alla napoletana lange gekochten, abgekühlten und dann erst mit Paprika gebratenen Oktopus machte er sich mit seinem „MedEATerranean Trip" einen Namen. Zum Bekanntwerden von Porchetta trug er ebenfalls seinen Teil bei. Die kräuterwürzige Schweinebauch-Rolle eignet sich in Focaccia gepackt hervorragend als Mittagsimbiss. Selbst die Salsiccia, die im „MedEAT" etwa als Brät auf Tagliatelle mit Kräuterseitlingen kommt, ist hausgemacht. Platz für eine Wurstmaschine ist in der kleinsten Restaurantküche, wenn ein Italiener es so will!
Regionalbewusstsein bedeutet nicht, dass es allein um Italienisches geht. Gastronomin Silvia Bellusci von „Terra Craft Kitchen" in Kreuzberg dachte von der Restauranttür aus weiter in den eigenen Garten hinein und bis nach Brandenburg. „Ich komme aus einer Gastronomie-Familie in Kalabrien. Meine Liebe zum Gärtnern hat dazu geführt, dass ich eine simple, aber auch der Welt gegenüber respektvolle Küche mache." Die 37-Jährige ist studierte Sinologin und Indologin und blieb, wie viele italienische Studierende, nach dem Abschluss und mit einem Erasmus-Stipendium an der Uni Halle-Wittenberg vor 16 Jahren in Berlin. „Ich hatte eine kleine Wohnung am Kotti, bin gependelt und habe in Clubs, Bars und in der Gastro gearbeitet."
Der Behördenauflagen wegen nicht rentabel
Sie wollte ursprünglich das „Terra" mit weiteren Partnern betreiben. Doch die sprangen ab. Ein ordentlicher Businessplan und der Zuspruch der vorigen Betreiber trugen dazu bei, dass sie vor acht Jahren schließlich allein übernahm. Nun schenkt die inoffizielle „Bergamotte-Botschafterin" ebensolchen sowie gelegentlich Clementinen-Saft aus der Heimat aus. Bellusci legt aber auch Sprossen aus dem eigenen Microgreens-Schrank auf ihre mit Bio-Mehl gebackenen Pizzen oder zieht die Kräuter auf ihrer Terrasse gleich selbst. Das Essen wird außerdem mit dem von der Familie selbst gepressten, biologischen Olivenöl von „Il Santo Sepolcro" zubereitet.
Eigene, tagesfrische Produkte waren auch Marcello Calenda wichtig. Der 43-jährige Berliner baute gemeinsam mit zwei Käsemachern aus Kampanien eine kleine Käserei im „The Bufala Club" im Friedrichshain auf. Sie stellten Mozzarella Fior di Latte, Mozzarella di Bufala, Burrata und Stracciatella her. Nach knapp einem Jahr war jedoch im Frühjahr dieses Jahres Schluss damit. Neue Behörden-Auflagen machten den Weiterbetrieb des „Glaskastens" im hinteren Bereich des Lokals unmöglich. Ein kompletter Umbau wäre unwirtschaftlich, die Räume zu klein gewesen. Im „The Bufala Club" gibt es seither alle zwei, drei Tage eingeflogenen Mozzarella von der „Caseifico Roberta". Er spielt weiterhin in Panini, zu Salat und als Antipasto die Hauptrolle. Unabhängig davon führt Marcello Calenda bereits länger und erfolgreich ein zweites Lokal nahebei – das „Saporito".
Dort mischt Calendas 68-jähriger Papa Matteo gelegentlich noch mit. Er hatte bereits in Berlins erstem konsequent auf Regionalküche ausgerichteten Restaurant mitgearbeitet – in der „Trattoria a‘ Muntagnola". Gründer und Mitinhaber Pino Bianco, inzwischen 64, und seine 87-jährige Mama Angela sind die Markenzeichen des Schöneberger Lokals, das sich seit 1991 der Küche der Basilikata verschrieben hat. Der gelernte Steuerberater Bianco reiste viel, lernte mehrere Sprachen. Er wurde nach dem frühen Tod seines Vaters sesshaft. Nur nicht „im Dorf", wie der sich das gewünscht hätte, sondern in Berlin.
Mama Angela kam mit. Von ihr stammen traditionelle Rezepte wie geschmorte Heidschnucke nach Art der Schäfer oder Lamm nach Bäuerinnen-Art. Der Widerstand gegen die Produkttreue und italienische Authentizität war anfangs groß, erinnert sich Bianco: „Die Gäste wollten Plockwurst statt italienischer Salami auf der Pizza!" Undenkbar! „Unsere Hartnäckigkeit hat sich mit der Zeit ausgezahlt." Die Gäste lernten und aßen sich an Spezielleres heran. Saubohnenpüree mit Löwenzahn oder gefüllte Zucchiniblüten mit Thunfisch sind längst beliebte Gerichte, die auf Rezeptkarten zum Mitnehmen und Nachkochen verewigt sind. Mama Angela, die über dem Lokal wohnt, schaut täglich herein und wacht über die Qualität der Küche.
Von Berlin aus in die ganze Republik
Vieles, allem voran die Logistik, ist seit den 1990er-Jahren für alle Beteiligten einfacher geworden. Das Qualitätsbewusstsein stieg auch bei den Gästen. Produzenten und Gastronomen sind online unkompliziert über große Distanzen hinweg vernetzt. Produkte selbst von kleinsten Herstellern sind einfach bestellbar. Das ermöglicht eine bessere, regionalere und vielfältigere Küche. Sara Trovatelli von der Agentur „Berlin Italian Communication" geht von etwa 100 Restaurants in Berlin aus, die so einen „True Italian"-Ansatz verfolgen. „Das Engagement für unsere Küche, Frische, saisonale und qualitativ hochwertige Zutaten sowie der Respekt vor der Tradition sind sehr wichtig, auch wenn man kreativ ist und neue Kombinationen wagt", sagt Trovatelli. „True Italians sind Botschafter, die sich jeden Tag mit Leidenschaft und Kenntnis für unsere Küche einsetzen." Der „richtige" Pass des Inhabers oder Kochs spiele keine Rolle. „True Italian" vereint im Jahr bis zu 250 italienische Gastronomen von überall her auf Food-Events wie der Pizza, Pasta oder Ice Cream Week sowie auf diversen Streetfoodfestivals. Offizielle Zahlen zu italienischen Gastronomien in Deutschland gibt es nicht. Die Eingabe „italienische Küche" bei Trip Advisor Berlin wirft 1.006 Treffer aus. Ein erster Anhaltspunkt. Die „True Italian"-Gastronomen wären immerhin zehn Prozent. Der Trend ist deutlich: Die qualitätsbewusste, produktversessene, neue italienische Küche ist in Berlin nicht mehr zu stoppen. Gewiss ist ebenso: Was in der Hauptstadt beginnt, breitet sich mal schneller, mal langsamer in der Fläche aus und ist in spätestens zehn Jahren auch andernorts geschätzter bis vielgeliebter Standard.