Bei Nelvie Tiafack hat es „Klick" gemacht, die große deutsche Box-Hoffnung scheint ihren Weg zielgerichteter und konstanter anzugehen. Erst zu Olympia, dann ins Profigeschäft – das ist der Plan des Superschwergewichtlers.
Auf diesen Kampf hat die Boxwelt seit Jahren gewartet: Tyson Fury gegen Anthony Joshua. Vor allem auf der Insel wird dem „Battle of Britain" zwischen den beiden besten britischen Schwergewichtsboxern entgegengefiebert. Nachdem Fury im Frühjahr als Weltmeister des Verbandes WBC zurückgetreten war und sein Karriereende bekannt gegeben hatte, schien der Fight zunächst außer Reichweite. Doch allen in der Szene war klar, dass sich Fury bei einem passenden Angebot noch mal die Boxhandschuhe überstreifen würde. Da der vierfache Weltmeister Oleksandr Ussyk aus der Ukraine zu einem Vereinigungskampf nicht bereit war, kehrt Fury für den zweitinteressantesten Gegner in den Ring zurück. Joshua und Fury eint eine herzliche Abneigung füreinander, das Duell der charakterlich und auch stilistisch höchst verschiedenen Box-Stars dürfte die Massen elektrisieren. Damit lässt sich viel Geld verdienen.
Konstanz war lange ein Problem für ihn
Vor allem deshalb akzeptierte das Joshua-Management die Bedingungen des Fury-Lagers, das 60 Prozent der Einnahmen verlangte. Sollte der unberechenbare Fury nicht doch noch einen Rückzug machen, findet der Mega-Fight statt, womöglich schon Anfang Dezember. Einer, der dann ganz genau hinsehen wird, ist Nelvie Tiafack. Der Bergheimer will irgendwann auch bei den Profis mitmischen, um viel Geld und großen Ruhm kämpfen – und einige Experten trauen ihm das zu. Der 23-Jährige ist Deutschlands aktuell größte Hoffnung bei den schweren Jungs. Eigentlich ist er das schon seit vielen Jahren, doch Konstanz war lange ein Problem für ihn. Das Kölner Kraftpaket, das je nach Vorbereitungsphase 110 bis 120 Kilogramm Körpergewicht auf die Waage bringt, ließ auf glanzvolle Vorstellungen einen oft unerklärlichen Leistungsabfall folgen. „Er hat schon lange an die Tür geklopft, aber es fiel ihm schwer, diese Explosivität von Anfang bis Ende hochzuhalten", sagte Cheftrainer Eddie Bolger vom Deutschen Boxsport-Verbands (DBV). Doch dann kam die Europameisterschaft im vergangenen Mai im armenischen Jerewan, die womöglich den Durchbruch für den mit körperlichen Top-Voraussetzungen gesegneten Tiafack bedeutete. Er gewann überraschend EM-Gold in der Klasse über 92 Kilogramm, im Finale setzte er sich gegen den Spanier Ayoub Ghadfa durch – aber nicht nur irgendwie. Sondern durch Abbruch wegen Überlegenheit zu Beginn der dritten Runde.
Gleich zweimal war sein Gegner nach harten Treffern angezählt worden. Es war eine beeindruckende Machtdemonstration des Deutschen gewesen. „So richtig begreifen kann ich es noch nicht. Europameister – das ist schon was", sagte er hinterher von sich selbst überrascht. Als Belohnung wurde Tiafack offiziell zum „Sportler des Monats" gekürt, diese Auszeichnung der Deutschen Sporthilfe ist mit ein wenig Geld und viel Prestige verbunden. Die Sieger in den Folgemonaten waren keine Geringeren als Schwimmstar Florian Wellbrock, die Fußball-Nationalspielerinnen nach Platz zwei bei der EM in England und Sprint-Europameisterin Gina Lückenkemper.
Das letzte Mal, dass ein deutscher Boxer sich zum Europameister gekürt hatte, war 2017. Damals hieß der Sieger Abass Baraou, der ein Jahr später den Schritt ins Profilager wagte. Dort gewann der Halbmittelgewichtler aus Hamburg von 13 Kämpfen zwölf, nur gegen Ex-Weltmeister Jack Culcay setzte es eine knappe Niederlage. In den Rankings der Verbände IBF (8.) und WBA (15.) ist Baraou aussichtsreich platziert, ein WM-Kampf dürfte nur noch eine Frage der Zeit sein. Einen ähnlichen Weg will auch Tiafack gehen, aber übereilen will er den Schritt ins Profigeschäft nicht. Der 1,88 Meter große Athlet vom SC Colonia in Köln will noch drei Jahre als Amateurboxer Erfahrungen sammeln – und sein Olympia-Trauma bewältigen.
Kein übereilter Schritt
Das Ticket für die Sommerspiele in Tokio hatte Tiafack bei der Qualifikation überraschend verpasst, was eine große Enttäuschung für ihn persönlich wie auch für den Verband war. Der Superschwergewichtler war beim Ausscheidungsturnier an Nummer eins gesetzt, hatte in der ersten Runde ein Freilos gehabt – und verlor in der zweiten mit 0:5 gegen den Ukrainer Tsotne Rogava. Der DBV wollte eine Wildcard für Tiafack beantragen – doch Olympia fand ohne das große Talent statt. Lediglich drei DBV-Athleten konnten sich für das Großevent qualifizieren, eine Medaille gab es nicht. Der größte Hoffnungsträger des deutschen Amateurboxens musste sich das Debakel von zu Hause aus ansehen. „In den ersten Tagen danach war schon sehr hart sich einzugestehen, dass es jetzt wirklich vorbei ist", erzählte Tiafack.
Doch sein Olympiatraum soll nur aufgeschoben sein. Als eine Konsequenz stellte der Sportsoldat seine Ernährung etwas um, verzichtet zum Beispiel inzwischen auf seine geliebten Fruchtsäfte, die einen hohen Zuckeranteil haben. So speckte er innerhalb eines halben Jahres zehn Kilogramm ab. „Er hat verstanden, dass das wichtig ist, um vielleicht noch spritziger zu sein und die Kämpfe lockerer gestalten zu können", meinte sein Trainer Lukas Wilaschek. Sein ideales Kampfgewicht liegt bei 110 bis 115 Kilogramm, so Tiafack, „dann haben die anderen keine Chance mehr". Auch Tiafacks Mutter ist stolz auf die neue Disziplin ihres Sohnes, wie dieser berichtet: „Die freut sich mega, sie will immer die Kinderfotos finden und vergleichen."
Vielleicht hat Tiafack diesen Olympia-Tiefschlag sogar gebraucht. „Man muss aus den Battles im Leben das Beste machen", sagte der Sportler, „und ich weiß ganz genau, was möglich ist, wenn ich dranbleibe." Nicht umsonst ist sein boxerisches Vorbild ein gewisser Mike Tyson, denn: „So ein Kämpferherz haben nicht viele." Er will sich unbedingt als deutsche Nummer eins für Olympia 2024 in Paris qualifizieren, dort groß auftrumpfen und sich so für das Profigeschäft empfehlen. „Die Frage ist nicht, ob ich dabei bin, sondern welche Medaille ich hole", sagte er dem „Kölner Stadtanzeiger". Auf Olympia wolle er „eine Profikarriere aufbauen. Das habe ich immer im Hinterkopf. So verliere ich auch meinen Ehrgeiz nicht."
Der Werdegang des gebürtigen Kameruners ähnelt denen anderer Boxer, die mit ausländischen Wurzeln in Deutschland erfolgreich sind. „Ich bin alleine mit meiner Mutter nach Deutschland gekommen, da hatte ich gar keine andere Möglichkeit, als stark zu sein", sagte er einmal. Tiafack probierte sein Glück zunächst im Fußball und Basketball, zum Boxen kam er vor sieben Jahren eher zufällig. Weil er aufgrund einer selbstauferlegten Sportpause so viel an Gewicht zugelegt hatte, „dass ich unbedingt wieder etwas machen musste", kam ihm Boxen in den Sinn. Überliefert ist die Anekdote, dass Tiafack beinahe wieder kehrtmachte, als er bei seinem ersten Besuch am Gym der SC Colonia in Köln-Müngersdorf das Schild mit der Aufschrift „Olympiastützpunkt NRW" entdeckte. Das sei mindestens eine Nummer zu groß, dachte er sich damals.
„Nur Kraft reicht im Boxen nicht"
Tiafack betrat trotzdem die Halle – und begeisterte die Trainer schnell. Dass er die körperlichen Voraussetzungen für diesen Sport mitbringt, sah jeder. Doch Tiafack zeigte auch eine sehr schnelle Auffassungsgabe und ausgeprägte Lernwilligkeit. Von seinem ersten Kampf als Junior hatte er vor allem eines gelernt: „Nur Kraft reicht im Boxen nicht." Dem Youngster war schon nach der Anfangsrunde die Puste ausgegangen. „Danach habe ich mir geschworen: Jetzt kommst du regelmäßig, machst deine Läufe und alles", berichtete er. Und so wurde Tiafack besser und besser. Kraft paarte sich mit Balance und Beweglichkeit – eine höchst seltene Mischung bei den schweren Box-Jungs. Die Erfolge stellten sich schnell ein: Deutscher Meister mit 19 Jahren, EM-Dritter und WM-Viertelfinalist mit 20 Jahren, IBA-Weltranglisten-Vierter mit 21 Jahren – so schnell stiegen in der Königsklasse des olympischen Boxens nicht viele Sportler auf. „Ich sehe meine Fortschritte und bin entsprechend begeistert", sagte Tiafack mit dem Selbstbewusstsein, das man als Faustkämpfer haben muss: „Diese Erfolge zeigen mir, dass meine Ziele möglich sind."
Mit Sorge blickt Tiafack aber in die ungewisse Zukunft des olympischen Boxens, denn die findet – Stand jetzt – 2024 in Paris ein vorläufiges Ende. Da das Internationale Olympische Komitee (IOC) weiterhin „keine klar ersichtlichen Bemühungen" des Box-Weltverbands IBA erkennt, Reformen unter anderem gegen Manipulationen und fragwürdige Finanzgeschäfte umzusetzen, bleibt es vorerst beim angekündigten Olympia-Ausschluss für 2028 in Los Angeles. „Ich mache mir riesige Sorgen, vor allem für den Nachwuchs", sagte Tiafack dem Sport-Informations-Dienst: „Meine Zeit ist jetzt, ich habe noch die Chance, bei Olympia teilzunehmen. Aber für den Nachwuchs wäre das sehr, sehr schade." In dem Dauerstreit zwischen IOC und IBA „trifft es im Endeffekt immer die Falschen", sagte der Superschwergewichtler, „wir sind die Athleten, wir können nichts dafür, was die da oben machen".
Nach der Suspendierung der IBA hatte das IOC schon die Durchführung der Qualifikation und des olympischen Boxturniers in Tokio an sich gerissen, auch für Paris 2024 ist die IBA außen vor. Wie das IOC mitteilte, haben die Amateurboxer bei den Kontinentalmeisterschaften 2023 eine Chance auf ein Olympia-Ticket, dazu sollen 2024 zwei weltweite Quali-Turniere organisiert werden. Das IOC bewirbt dies mit dem angeblich einfacheren und übersichtlichen Modus, doch im Athletenkreis kommt es weniger gut an als die zehn Quali-Turniere, die die IBA geplant hatte. „Die Leistung, die man über die Jahre bringt, sollte belohnt werden – wie zum Beispiel bei den Judoka, dort geht es auch über die Weltrangliste", sagte Tiafack. Er weiß aus eigener Erfahrung, dass ein schlechter Tag schon das Aus für den Olympia-Traum bedeuten kann.