Theater seien Perlen in einer Stadt, behauptet der Ballettdirektor der Leipziger Oper, Mario Schröder. Der Leiter eines der größten Ensembles in Deutschland im Gespräch über die raumbezogene Kunstform, Krieg und Frieden.
Eigentlich war er wie die meisten seiner Schulfreunde begeisterter Fußballfan. Als Mario Schröder jedoch die Lust am Spiel verlor, zeigte ihm seine Mutter eine Annonce der Dresdener Palucca Schule und erklärte ihm, dass Ballett so etwas Ähnliches sei, „was Charlie Chaplin mache". „Für mich war dann ganz schnell klar, das will ich lernen", erinnert sich Mario Schröder. In Turnhosen stand der damals Neunjährige vor der berühmten Tänzerin Gret Palucca. „Es war in einem großen Ballettsaal. Ich war wie gelähmt, hielt mich mit den Füßen am Boden fest. Sie kam zu mir und fragte: Willst du ein bisschen mittanzen? Ich sagte, ich weiß gar nicht, wie Tanzen geht. Daraufhin meinte sie, dann tanz das! Versuche, mit deinem Körper zu erzählen, was du gerade empfindest. Ich fühlte mich am Anfang wie ein Alien und dann plötzlich ging ich aus dem Saal heraus und war tief ergriffen."
Er entdeckte als Kind das Tanzen
Das war seine erste Begegnung mit dem Tanz. Charlie Chaplin, den Impulsgeber für seine Ausbildung an der Palucca Schule, verlor Mario Schröder aber nie aus dem Auge. Ihm widmete er später ein eigenes Tanzstück. Fasziniert war er auch von Palucca. „Sie schaffte es, uns Kinder frei zu machen, zum Beispiel für tausend verschiedene Varianten durch den Raum zu hüpfen. Man kann das traurig machen, mit Leichtigkeit, lächelnd, spaßig, man kann dabei springen, fliegen, stürzen. Also all diese Energiequellen, die sehr stark mit Körper und Geist zu tun haben, zu entdecken und aufzubrechen, das erzeugt eine authentische Kraft."
Bequem und doch mit aufrechter Haltung sitzt Mario Schröder im Sessel seines kleinen Büros der Leipziger Oper. Dass er schon als Kind zu tanzen begann, ist seiner Erscheinung anzusehen, seinem Habitus, seiner Mimik. Er reflektiert, philosophiert, gestikuliert. Ihn beschäftigt immer wieder die gleichen Fragen. Was kann, was soll Tanztheater? Früher glaubte er, Tanz könne die Welt verändern, könne Frieden stiftend sein. Nur schön und ästhetisch zu tanzen, reichte ihm nie aus. „Kunst ist kein Schmuck. Es geht darum, uns allen einen Spiegel vorzuhalten und zum Nachdenken anzuregen, das sei eine Ur-Funktion auch um Reflexion, um Mahnung. Kriege geschehen aus wirtschaftlichen Interessen und einer Intoleranz anderen Menschen, Kulturen, Religionen gegenüber." In seinen Stücken setzt sich der Chefchoreograf Mario Schröder mit dem Kern der Themen auseinander und legt sie auf den Tisch. „Wo tauchen wir selbst darin auf? Haben wir den Mut, unsere eigene Geschichte anzuschauen, ein Stück auch uns selbst kennenzulernen? Wie gehen wir um mit aufkeimenden Empfindungen von Habsucht- und Herrschsucht, von Neid, Wut und Aggression? Wie können wir die kleinen Kriege in uns selbst befrieden, uns gesellschafts- und sozialpolitische Ungerechtigkeiten bewusst machen, wenn wir uns nicht hinterfragen? Gefühle von Macht und Ohnmacht in uns, von Eitelkeit, von Schuld und Verantwortung für menschliches Leiden? Fragen unseres Daseins, der Vergänglichkeit. Was war. Was ist. Was bleibt."
Der Leiter eines der größten Ballettensembles in Deutschland zuckt für einen Moment mit den Schultern, blickt ernst. Seit einiger Zeit nehme er wahr, dass das Wort „Gemeinschaft" immer mehr abhanden kommt. Die Pandemie, der Ukraine-Krieg, Umweltzerstörung, Bruchstellen, Einsamkeit. Was bedeute es da, Mensch zu sein? „Ich glaube, der Mensch ist nicht von Natur aus kriegerisch veranlagt. Und doch gibt es Machtbesessene, die Kriege entfachen. Wir müssen hinterfragen warum. Was führt jeden Kriegstreiber dazu, Krieg zu führen? Jegliche Intoleranz und jegliches intolerante Denken hat nichts auf dieser Welt zu suchen. Ich denke, Tanz kann den Geist frei machen, kann berühren, bewegen. Theater ist ein wichtiger Ort, an dem Menschen sich verbinden, eine universelle Sprache sprechen. Theater – das sind Perlen in einer Stadt." Nein, das Theater habe seine Bedeutung nicht verloren, behauptet Mario Schröder.
Der Ballettdirektor der Leipziger Oper ist ein Suchender, einer, der im Tanz mit dem Körper auf Entdeckungsreise geht. „Die Zerbrechlichkeit des Körpers, der Seele, des Herzens hat stark mit Identitätssuche zu tun, mit dem, was uns ausmacht. Was bedeutet das Wort Heimat? Welche Rolle spielen unsere Wurzeln, unsere Lebenshaltung, der Glaube? In allem nehmen wir immer unsere eigene Geschichte mit durch unser Leben, auch die unserer Ahnen, die unserer Eltern und Geschwister." Natürlich habe er ein Statement zu den Dingen, eine Einschätzung, eine Botschaft. „Dennoch muss ich immer offen sein, zuhören und auch unterschiedlich Kräfte und Aspekte wahrnehmen." Beim Umsetzen einer Geschichte setzt er sich immer mit Zeitgeschichte auseinander. Drängende Fragen aus der menschlichen Tiefe heraus gehen ihm durch den Kopf. Es gehe darum, diese Fragen in eine Form zu bringen, sie mit der Sprache des Körpers zu formulieren, mit dem Instrumentarium des Körpers und dann in den Zuschauerraum weiterzureichen an denjenigen, der einem vielleicht zusieht beim Tanzen und vielleicht die Botschaft spürt. „Wer bin ich? Woher komme ich? Wo stehe ich? Wo gehe ich hin? Was ist mein Weg? Bin ich auf dem richtigen Weg?" Mario Schröder ist nicht sicher, ob er immer eine Antwort findet. „Im Tanz machen wir nichts anderes, als immer nur Fragen zu stellen. Manchmal bringen sie uns zum Weinen, zum Lachen. Manchmal schmerzen sie. Manchmal machen sie Mut."
Mutter ermutigte ihn auf seinem Weg
Ermutigt auf seinem Weg hat ihn vor allem seine Mutter. Mit großer Wertschätzung erzählt er von ihr. „Sie war ein Kriegskind, vertrieben aus ihrem Haus in Niederschlesien. Als Flüchtling verließ sie ihre Heimat in Breslau. Alleinstehend und trotz finanzieller Nöte war sie großzügig und hatte ein weites Herz", erinnert sich der Sohn. Geboren wurde Schröder und seine beiden Schwestern in Finsterwalde, einer Kleinstadt zwischen Dresden und Berlin. Mit zehn Jahren begann er seine Ausbildung an der heutigen Palucca Hochschule für Tanz in Dresden. „Meine Geschwister und ich sind mit sehr viel Wärme und Liebe und in großer Freiheit aufgewachsen. Wenn ich Mist gebaut habe, ist meine Mutter nie hysterisch ausgerastet, sondern fand stets ruhige Worte, wenn sie mit mir sprach. Von ihr habe ich gelernt, was es bedeutet, mich zu öffnen für Menschen, für die Welt. Durch sie habe ich einen starken Gerechtigkeitssinn entwickelt." Schon als Kind habe es ihn aufgeregt, wenn jemand in der Schule ungerecht behandelt oder gar ausgestoßen wurde. Das Gefühl für Aufrichtigkeit und Anstand habe sich fortgesetzt. Später, während der friedlichen Revolution, war er bei den Demonstrationen dabei. „Ich wollte wissen, wo geht es hin mit uns? Kann ich etwas bewirken? Da war ganz viel Hoffnung, aber auch Angst um die Menschen, die später durch das soziale Netz fallen würden. Angst vor den Nazis, die sich hier aufbäumten. Und die Sorge, was machen wir mit der neuen Gesellschaft? Was ist Demokratie?"
Mario Schröder blickt auf ein im wahrsten Sinne des Wortes bewegtes Leben. 57 ist er heute und hat an die 120 Stücke inszeniert. „Tanz ist für mich Leben, Liebe, Tränen, Hingabe. Tanz ist für mich wie eine zweite Haut." Dabei sei die Suche nach einer Bewegung, die Beherrschung des Körpers kein leichter Weg, verbunden mit einem hohen Maß an Disziplin und zugleich einer inneren Freiheit.
„Es gibt einen Code, der stark an den körperlich-seelischen Zustand herankommt. Aus dem heraus können wir uns verständigen", meint der Choreograf. „Jede Bewegung hat einen Anfang und ein Ende. Dazwischen wird sie gefüllt mit Geschichten, Worten, Zuständen, Ideen, Gedanken, Reflexionen." Die Themen für seine Choreografien finde er überall, auf der Straße, in der Gemeinschaft mit Menschen, in der einfachen Lebenswirklichkeit. „In allem, was mich aufregt, mich zum Lachen bringt, zum Verzweifeln, mich traurig macht oder freudig stimmt. Das alles kommt zu mir."
„Tanz ist für mich wie eine zweite Haut"
Das Leipziger Ballett, dessen Ursprünge bis ins späte 17. Jahrhundert zurückreichen, zählt heute zu den großen internationalen Kompanien. In den 40er-Jahren des 20. Jahrhunderts setzte Mary Wigman mit ihrer Choreografie „Carmina Burana" einen Meilenstein. Seit Eröffnung des Neuen Opernhauses 1960 wurden nahezu alle großen Handlungsballette wie auch zeitgenössische Choreografien aufgeführt.
Mario Schröder kam mit 18 an das Leipziger Balletthaus. 16 Jahre war er Erster Solotänzer. Nebenbei studierte er Choreografie an der Berliner Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch. Mario Schröder wollte selbst gestalten. Mit der gleichen Hingabe, die er als Tänzer aufbrachte, widmete er sich als Choreograf der Erarbeitung neuer Stücke. Im Jahr 2010 übernahm er die Leipziger TanzKompanie als Ballettdirektor und Chefchoreograf. Zuvor wirkte er in gleichen Positionen in Würzburg und Kiel, schuf zahlreiche Choreografien unter anderem in Japan, USA, Russland, Frankreich und der Mongolei sowie für große deutsche Bühnen wie Deutsche Oper und Komische Oper Berlin und für das Aalto Ballett Essen. Er arbeitete mit Ruth Berghaus, Maxim Dessau, Nikolaus Lehnhoff und Uwe Scholz zusammen und ist Preisträger zahlreicher Choreografie-Wettbewerbe. Immer wieder probiert Mario Schröder Neues aus, verlegt Proben in die Stadt oder führt Stücke an markanten Orten in Leipzig auf. Mit seinen jungen und kreativen Tänzern aus 24 Nationen begeistert das Leipziger Ballett nicht nur das Publikum seiner Heimatstadt.
Mario Schröder reist gern in fremde Länder, lernt andere Lebensarten und Kulturen kennen. Ob in Kambodscha, Japan, Lateinamerika, Afrika oder Senegal, von überall hole er sich Input. „Ich merke, wie zerbrechlich die Welt ist und wir in einer sicheren Welt leben. Das schafft Ehrfurcht, Demut vor dem, was ich mache und was andere machen.
Als Ballettdirektor und Chefchoreograf in Leipzig verfolgt Mario Schröder den Traum, Menschen zu bewegen. „Mir geht es nicht darum, etwas eins zu eins zu übersetzen, nicht zu zeigen, was den Leuten nur gefällt, sondern sie zu berühren und vielleicht darüber hinaus, Dinge auch verändern zu können. Unseren Planeten irgendwie besser machen zu wollen. Denn die Welt ist wunderschön in ihrer Größe, wie auch der Tanz es ist. Und je freier und offener wir sind, desto mehr erschließt sich das."