Gewöhnlich setzen die Menswear-Designer für die kalte Jahreszeit immer auf grundsolide Oberbekleidung und klassisches Tailoring. Doch im Winter 2022/2023 verlassen viele Marken die konservativen Pfade und präsentieren zusätzlich zahlreiche queer-genderfluide Kreationen.
Nachdem London seine Herren-Shows aufgrund von Omikron-Spitzen abgesagt hatte und sich zuvor schon viele renommierte Marken von der Pitti Uomo in Florenz verabschiedet hatten, blieben den Menswear-Designern Mitte Januar 2022 im Wesentlichen nur noch die Schauen in Mailand und Paris, um ihre Kreationen für den Winter 2022/2023 digital oder teilweise auch in Live-Performances zu präsentieren. Dabei gab es eine Menge Überraschungen, die Rätsel über den künftigen Weg der Herrenbekleidung aufgeworfen haben. Denn diese hatte sich bekanntlich vor zwei Jahrhunderten von schmückend-herausputzenden Akzenten verabschiedet, sich auf eine funktionale Garderobe reduziert und fortan die Mode mit ihren kurzzeitigen Trends fast ausschließlich dem weiblichen Geschlecht überlassen – das seitdem sein ureigenes Bekleidungs-Portfolio durch Adaptionen so ziemlich aller männlichen Klamotten-Basics ins Unermessliche erweitern konnte.
Pfiffige Inspirationen aus der Ladys-Fashion
Eine auch nur minimal vergleichbare Annäherung an feminine Outfits galt lange für die Herren geradezu als ein Tabu, weil es fast zwangsläufig mit der Unterstellung einer homosexuellen Neigung verbunden war. Doch im Zuge der Genderdebatte, die die vormals strikten Grenzen zwischen den Geschlechtern immer mehr verwischt hat, setzte auch bei manchen Menswear-Kreativen ein Umdenken ein. Statt wie früher nur mit einzelnen Kleidungsstücken wie den Röcken an vorderster Stelle die Mode-Öffentlichkeit zu provozieren, wofür vor allem die Londoner Schauen bekannt waren, scheinen sich die Designer während der schier endlosen Pandemie-Monate ernsthaft Gedanken darüber gemacht zu haben, wie die größtenteils traditionell-konservative Männergarderobe durch pfiffige Inspirationen aus der Frauenmode weiterentwickelt und spannender gemacht werden könnte.
Entsprechende Versuchsballons, beispielsweise kurze Jacken über bloßen Bäuchen in der Fendi-Männer-Kollektion 2021, wurden schon in den zwei, drei vergangenen Saisons gestartet, worüber wir im FORUM berichtet haben. Aber diesen Winter sind die Designer noch einen großen Schritt weiter gegangen, bis hin zu Kostümen, Sanduhr-Tailoring, Riemchensandalen à la Mary Janes oder Overknee-Stiefeln, was die „Vogue" folgendermaßen kommentiert hatte: „Herrenmode hat noch nie so queer ausgesehen, mit sanft geschwungenen Anzügen, Ausschnitten und körperumspielender Kleidung. Wird die Damenmode aufholen?" Damit nicht genug, lässt ein vorausschauender Blick auf die Männerkollektionen des Sommers 2023 schon den Schluss zu, dass genderfluide Kreationen weiter auf dem Vormarsch sein werden. Woraus die „Vogue" womöglich etwas vorschnell die Prognose, „Menswear neu definiert", gestellt hat. Natürlich ist auch weiterhin die klassische Männergarderobe, teils innovativ abgewandelt, in den Kollektionen repräsentativ und dabei dominant vertreten. Was sich auch in unserem Trendüberblick widerspiegelt:
Monströs gestaltete Puffermäntel und Umhänge
Bomberjacke: Dank Giorgio Armanis vielbewunderter aktueller Blusen-Bomberjacke und der von Raf Simons entworfenen „MA-1" sind Bomberjacken laut der „Vogue" diesen Winter wieder zu einem begehrten Must-have geworden.
Lammfell/Shearling: Die Lammfelljacke dürfte das ikonische Outdoor-Stück des kommenden Winters werden (schöne Modelle von J. W. Anderson, Rick Owens, Hermès oder Glenn Martens). Einige Designer nutzen Shearling aber auch nur als Schmuckdetail.
Kunstpelz: Meist wird das tierschonende Material zur Gestaltung langer Mäntel genutzt (Dries van Noten, Loewe oder Dolce & Gabbana), einige Marken wie Prada oder Alyx beschränken den Kunstpelz-Einsatz auf dekorative Zierleisten.
Quilt-Daunenjacken: Letztes Jahr wurden den Damen jede Menge Quilt-Skianzüge offeriert, nun hält das wärmende Textil vor allem in Gestalt der Rautensteppung auch verstärkt Einzug in die Menswear. Auch für an Tagesdecken erinnernde Umhänge kam Quilt zum Einsatz.
Monster-Puffer: Die Designer erwarten offenbar einen megakalten Winter. Weil sie ihre Puffermäntel und -jacken geradezu monströs gestaltet haben. Wer also keine Angst vor der berühmten Michelin-Männchen-Optik hat, sollte bei Alyx, Rick Owens oder Dolce & Gabbana zugreifen.
College-Jacken: Die von den Unis inspirierte Jacke mit ihren auffälligen Emblemen, häufig auch als Letterman-Jacket bezeichnet, bleibt auch diesen Winter weiter en vogue. Gesehen bei Louis Vuitton, Kenzo oder Opening Ceremony.
Ultra-voluminöse Hosen: Dank der Masse an Stoff wirken diese Hosen, wie sie Dries Van Noten oder Y/Projekt in ihrem aktuellem Sortiment führen, fast schon wie bodenlange Röcke. An Weite und Volumen sind kaum mehr Steigerungen möglich.
Elegante Jogginghosen: Um die Schlabberteile bürotauglich zu machen, wurden sie einem Lifting unterzogen, bei dem sie ihre kontrastierenden Besätze und Gummizüge am Knöchel verloren, dafür aber eine Art Bügelfalte erhalten haben. Auch die Farbgestaltung hat sich verändert, bei Prada taucht ein Perlmutt auf, bei Berluti ein Dunkelblau. Jogger de luxe aus feinstem Kaschmir hat Brioni in seiner Kollektion.
Maßgeschneiderte Anzüge mit Schrumpfpotenzial: Sie sind nicht nur extrem figurbetont gehalten, sondern wirken an ihren Trägern fast schon eine Nummer zu klein. Wer sich in diese Suits, beispielsweise von Rick Owens, Yohji Yamamoto oder Bianca Saunders, gleichsam hineinzwängen möchte, braucht schon einen perfekten Body.
Zweireiher: In Sachen klassischem Suit ist diesen Winter der Anzug mit Zweireiher-Jacke absolut angesagt, zumindest haben das Marken wie Versace, Fendi, Etro, Brioni oder Louis Vuitton auf ihren Laufstegen vorgemacht.
Doppel-Denim: Allover-Looks mit Hose und Jacke aus Jeansstoff waren auf vielen Catwalks zu sehen, beispielsweise bei Kenzo, Heron Preston oder Bianca Saunders. Bei Louis Vuitton sorgte ein Muster in Gestalt eines mit Blumen gesprenkelten Monogramm-Brokats für Furore.
Sanduhr-Silhouetten: Mit Hüftspeck sollte man getrost die Finger von diesen Jacken im Sanduhr-Schnitt lassen. Sie sind schon seit jeher ein Markenzeichen von Balenciaga, jetzt gibt es sie aber auch von Vetements, Prada, Dior oder Louis Vuitton.
Kleider/Röcke/Kostüme: So ganz kommt man an diesem umstrittenen Thema in der Männermode nicht vorbei, weil wieder mal Marken wie Dries Van Noten, Comme des Garçons Homme Plus, Undercover, Steven Passaro oder J. W. Anderson einen neuen Anlauf in Sachen Röcke (und sogar Kostüme, beispielsweise ein goldgelbes Model von Jordan Luca) beziehungsweise Kleider unternehmen.
Catsuits: Normalerweise bislang nur etwas für Frauen, doch das soll sich nach dem Willen von Loewe (Teil aus weißem Jersey) oder Vetements (mit Dollarnoten überzogen) nun ändern.
Kidcore: Ist schon ein seltsames Unterfangen, sich als Erwachsener wie ein Kind kleiden zu wollen, beispielsweise mit Cartoon-Grafik-T-Shirts, Batik-Shirts, Schuluniformen oder niedlichen Halsketten.
Dekorativer Schnur-Strick: Was in der Damenmode schon ziemlich schräg und überflüssig ausgesehen hatte, soll nun auch bei den Männern Einzug halten. Dekorativ über den gesamten Körper geschlungene oder übergestreifte Schnürungen, die keinerlei Wärmeeffekt haben. Eben Mode als Selbstzweck, zu bestaunen bei Y/Project, Rick Owens oder J. W. Anderson.
Schulter-Power: Scheint fast so, als ob die Designer (Rick Owens bis Dolce & Gabbana) bei der Jackenschneiderei versucht haben auszuloten, bis zu welchem Extrem sie die Schulterweite treiben können. Manche Ergebnisse können höchstens noch zum Schmunzeln anregen, andere wirken ziemlich kantig-kastig. Da hilft nur Anprobieren. Prada und Gucci haben in Sachen Manteldesign wohl den mit den prägnantesten Schultern ausstaffierten Trenchcoat entworfen.
Used-Look-Pullover: Um Liebhabern von Vintage-Strickwaren entgegenzukommen, haben einige Labels Pullover mit einem künstlichen Second-Hand-Touch entworfen. Zegna oder Missoni haben dafür auf Patchwork gesetzt, Etro oder Etudes auf eine Distressed-Optik, OAMC auf Fake-Flickerei.
Exponierte Boxershorts: Der Blick auf die hervorblitzende Unterwäsche war bislang eher in der Welt der Damenmode möglich. Nun ziehen die Herren nach, denn renommierte Labels wie Louis Vuitton oder Dior haben die Bünde ihrer Hosen so tief gelegt, dass die darunter getragenen Boxershorts präsentiert werden können.
Leder: Vollleder-Ensembles wie bei Hermès oder Bianca Saunders, perfekt polierte Ledermäntel oder auch geschmeidige Lederhosen – man hat bei diesem beliebten Material die Qual der Wahl.
Prägnante Schulterpolster
Cargohosen: Dank ihrer integrierten Taschen spielen diesen Hosen auch im kommenden Winter eine Hauptrolle.
Evergreen Overalls: Die lässigen Teile haben spielend leicht die Lockdown-Perioden überdauert. Beste Beispiele dieses Winters sind die Kreationen von Kenzo, Prada und Dolce & Gabbana.
Rollkragenpullover: Viele Designer haben diesen Klassiker in ihrem aktuellen Sortiment, von Prada über Zegna bis hin zu Tod’s.
Röcke über Hosen: Wieder eine Übernahme aus der Damenmode, wobei die Röcke in sämtlichen Varianten von Plissee über Tüll bis hin zur Krinoline daherkommen können. Nicht nur Thom Browne gefällt dieses Layering, sondern auch Louis Vuitton oder Undercover.
Bling-Bling/Pailletten: Warum sollen sich nur Damen in lebende Discokugeln verwandeln können? Diese Frage haben einige Menswear-Designer wie Bluemarble oder Dolce & Gabbana damit beantwortet, dass sie auch für die Herren funkelnde Pailletten-Oberteile entworfen haben.
Balaclavas: Die Sturmhauben, die schon zu Beginn der Pandemie an der Seite der Masken Hochkonjunktur hatten, sind offenbar nicht totzukriegen, wie es Loewe, Louis Vuitton oder Rick Owens auch diesen Winter wieder beweisen.
XXL-Schals: Wer sich den langen, ultrabreiten und das restliche Outfit weitgehend verdeckenden Schal von Lukhanyo Mdingi umwerfen sollte, wird problemlos eisigen Temperaturen trotzen können. Alternativ kann man sich auch ein XXL-Exemplar von Dries Van Noten oder Hed Mayner besorgen.
Riemchensandalen/Mary Janes: Dass die ultimativen Schulmädchenschuhe jemals in der Menswear auftauchen würden, hätte wohl kaum jemand für möglich gehalten. Bei Erdem und Fendi sind sie sogar ziemlich feminin gestaltet, bei J. W. Anderson und Comme des Garçon hingegen klobiger mit dicker Sohle. Grace Wales Bonner entschied sich für ein sportliches Schuhmodell, Hed Mayner für eine flache Ballerina-Variante.
Overknee-Stiefel: Wer sich gerne wie ein Musketier fühlen möchte, sollte diesen Winter in oberschenkelhohe, teils sogar bis fast zum Schritt reichende Stiefel steigen (Acne Studios oder Louis Vuitton). Bei Rick Owens waren sie zusätzlich mit Plateausohlen versehen, bei Moschino wurden sie bunt und abnehmbar wie Ledergamaschen gearbeitet.