In wenigen Wochen ist Anpfiff zur Fußball-WM. Alle Augen richten sich auf das Emirat Katar. Was es dort für Urlauber zu entdecken gibt? Was alt ist und was neu, sieht man in Doha nicht immer auf den ersten Blick.
Nach Sonnenuntergang, wenn sich der Vorhang der Nacht über die Stadt senkt, erwacht der Souq Waqif zum Leben. Als der Muezzin zum Maghrib gerufen hatte, dem vierten Gebet des Tages, waren die Läden noch geschlossen und die Stühle der Cafés menschenleer. Nur am plätschernden Brunnen herrschte reger Verkehr, weil die Glaubensvorschriften des Islam für Tauben nicht gelten. Nun aber werden im Basar die Lichter angeknipst. Es ist die beste Zeit für einen Besuch: Die Hitze des Tages hat sich verzogen, eine milde Brise zieht durch die Gassen, und wie von Zauberhand gesteuert ist plötzlich überall Betrieb.
Vollreife Datteln aus Saudi-Arabien? Getrocknete Karkadeh-Hibiskusblüten aus dem Sudan? Berghonig aus dem Jemen? Safranfäden aus Iran (und zwar echte, keine billige Fälschung)? Weihrauch aus Oman, natürlich Hojari, die beste aller Sorten, weiße Körner mit grünlichem Schimmer und besonders feinem Aroma? All das und noch viel mehr bieten die Händler im historischen Zentrum von Doha, der Hauptstadt des Emirats Katar. Doch Vorsicht: Wer auch nur eine Sekunde lang zu interessiert schaut, hat verloren. Zum Kaufen genötigt wird niemand, aber zum Probieren – hier Walnüsse und eine Handvoll Rosinen, dort ein Schluck Karak, mit Kardamom und Kondensmilch aromatisierter Schwarztee.
Im Souq scheint die Zeit stehen geblieben zu sein: Auch in den Restaurants wird man bewirtet, als müsse eine ganze Karawane gefüttert werden. Der Gast ist König – sofern er die lokalen Traditionen achtet und sich entsprechend verhält, also weder zu viel Haut zeigt noch in der Öffentlichkeit seine Reisebegleitung knutscht. Das passt zu einem Land, das sich zwar liberaler gibt als Saudi-Arabien, in dem der Islam im Alltag aber eine größere Rolle spielt als in Abu Dhabi und Dubai. Nur 300.000 Einwohner sind Einheimische: Es gibt zehnmal so viele Ausländer, die hier unter oft fragwürdigenden Bedingungen schuften. An fairer Bezahlung fehlt es, Geld für Entwicklung gibt es aber genug: Das Emirat ist dank der Öl- und Gasförderung das Land mit dem höchsten Pro-Kopf-Einkommen am Persischen Golf – und dürfte das auf absehbare Zeit auch bleiben, denn die größten Gasvorkommen werden erst in den kommenden Jahren erschlossen.
Die hölzernen Daus an der Kaimauer, deren Vorgänger einst noch reich beladen mit Handelswaren aus dem Indischen Ozean zurückkamen, sind also nur noch eine fotogene Kulisse: Die Herrscherfamilie baut Katar in Windeseile zu einem Übermorgenland um. So ziemlich alles ist deshalb nigelnagelneu in Doha: Der Stadtteil West Bay mit seiner nachts prächtig erleuchteten Skyline, die künstliche Insel The Pearl mit der Marina für die Motorjachten, das angesagte Msheireb-Viertel und die gerade entstehende Lagunenstadt Lusail. Neu sind auch der Flughafen und die acht Stadien für die bald startende Fußball-WM, neu ist die vierspurige Küstenstraße Corniche – und neu sind auch die riesigen Shopping-Malls, die hier als Konsumtempel den Status von Sehenswürdigkeiten haben.
Einkaufen ist nämlich Nationalsport: Als Reisender darf man mitmachen, wird aber vermutlich niemals gegen die Einheimischen gewinnen. In der Villaggio Mall können sich Besucher per Gondel, in der viele Einkaufstaschen Platz haben, über einen dann doch kläglich-kleinen Canale Grande fahren lassen oder auf der Eisbahn ein paar Runden drehen. In der gigantischen Al Hazm Mall, die an die Mailänder Einkaufsgalerie Galleria Vittorio Emanuele II erinnern soll, wird der weiße Carrara-Marmor gekühlt, damit Besucher beim Flanieren auch bei über 45 Grad und hoher Luftfeuchtigkeit im Sommer immer „bella figura" machen. Die Idee hat man sich wohl beim Katara Cultural Village abgeschaut. Dort ist zwar nicht das große Amphitheater mit Meerblick klimatisiert, dafür aber der zentrale Platz vor dem Einkaufszentrum Galeries Lafayette – und das, obwohl auch dieser Bereich gar nicht überdacht ist und man sich unter freiem Himmel bewegt.
Für Falken gibt es eine eigene Tierklinik
Aktuell am prunkvollsten gestaltet (es wird sicher weitergehen) ist die Place Vendome Mall in Lusail: Vermutlich gibt es keine große Luxusmarke, die hier nicht vertreten ist. Der Food Court entführt dann aber schon in eine andere Welt: Hier treffen sich die Gastarbeiter von den Philippinen an ihrem freien Tag beim Hamburger-Bräter Jollibee. Wenn abends zur vollen Stunde die Wasserorgel-Show abläuft, fühlt man sich in der Place Vendome Mall dann mehr wie am Las Vegas Strip als in der noblen Rue de la Paix in Paris. Obwohl anschließend kein sündiges Glücksspiel in Casinos lockt, das versteht sich in Katar von selbst.
Lieber rückt man die eigene Kultur ins beste Scheinwerferlicht. „Als Katari sollte man mindestens einen Falken, ein Kamel und ein Pferd haben", erzählt Abdul Rashid bei einer Führung durch das Gestüt Al Shaqab. Für Kamele ist er nicht zuständig, die rennen in den Wintermonaten jeden Freitag auf dem Track von Al Shahaniya, angetrieben von Robotern. Für die Falken gibt es eigene Tierkliniken. Die Vollblutaraber aber sind bei ihm in Al Shaqab zu Hause: Das hundert Hektar große Areal ist benannt nach jenem Ort, an dem die Vorfahren des Emirs einst eine Schlacht gegen die Ottomanen gewannen – mithilfe ihrer Araberpferde. Der ältesten und edelsten Pferderasse werden von ihren Fans in Katar nur positive Eigenschaften zugeschrieben: „Sie sind sowohl ausdauernd und athletisch als auch schnell und schön." Die Zucht der Vollblüter ist ein gutes Geschäft, vor allem aber eine Frage der Ehre. Deswegen bekommen die Araberpferde alles, was sie brauchen – große Boxen, viel Auslauf, frisches Heu. Und auch, was sie vielleicht nicht unbedingt brauchen, nämlich einen Jacuzzi für die Entspannung. Bevor man selbst ins Meer hüpft (oder in den Hotelpool), steht noch eine kurze Architektur-Tour an, denn in Doha haben internationale Star-Architekten viele Spuren hinterlassen. Auf einer künstlichen Insel, zu erreichen über einen Park mit rauschenden Palmen, steht das Museum für Islamische Kunst, das letzte Meisterwerk von I. M. Pei. Sein Kollege Jean Nouvel, der mit einer Dependance des Kunstmuseums Louvre Abu Dhabi ein neues Wahrzeichen beschert hat, hat auch für Katar einen unverwechselbar-spektakulären Entwurf abgeliefert. Das neue Nationalmuseum erinnert mit seinen 539 Rundscheiben an eine Sandrose – so heißen die wundersamen Kristallgebilde, die man mit etwas Glück außerhalb der Stadt in der Wüste finden, aber natürlich nicht mitnehmen kann. Weiter geht es in die „Education City", wo sich viele Universitäten angesiedelt haben: Dort hat das Team von Rem Koolhaas die Nationalbibliothek gebaut, einen regelrechten Palast für Bücher. Den nächsten Auftrag, für ein Automuseum, gab es im März. Jacques Herzog und Alejandro Aravena, als Pritzker-Preisträger ebenfalls ausgezeichnet mit dem Nobelpreis der Architektur, werden zwei Kunstmuseen bauen, die Art Mill und das Lusail Museum.
Ausflug zu einer Geisterstadt
Man kann in Katar einen Ausflug an die Westküste buchen, zu den Ruinen von Zekreet, pilzförmigen Felsen und der Geisterstadt Film City. Oder man erkundet mit dem Kajak an der Ostküste die Mangroven von Al Mafjar. Die schönste Tour, um Doha hinter sich zu lassen, geht aber an die Grenze zu Saudi-Arabien. Eine echte Achterbahnfahrt ist es zwar nicht – der Looping fehlt (glücklicherweise). Sonst ist aber alles dabei, was das Herz schneller schlagen lässt: Die rasende Geschwindigkeit, das Kippen auf die Seiten, unerwartete Abstürze, steile Anstiege. Nur dass man nicht auf Schienen durch einen Freizeitpark rast, sondern im Land Cruiser durch die Wüste donnert.
Zu viel Action? Kein Problem, der Fahrer kann es auch entspannt angehen, wenn die Gäste das wollen. So oder so, das Ziel ist immer Khor Al-Adaid: Hinter den Dünen befindet sich eine Lagune, wo die Sandwellen aufs Salzwasser des Persischen Golfs treffen. Für Hin- und Rückweg zur Lagune muss man gute vier Stunden einplanen. Auf dem Weg sieht man mit Glück eine seltene Antilopenart, den Arabischen Oryx, kann Fotos mit Falken schießen und auf Kamelen eine Runde drehen. Khor Al-Adaid hat abgeschiedene Stellen zum Schwimmen, das Wasser ist angenehm warm. Doch das Schönste ist: die Ruhe!
Wo aber findet man das Alte, das Einfache, wenn es mal gut ist mit all dem Beton und dem Glas und der ganzen Glitzerwelt? Im Souq Waqif wirkt Katar wie auf den Schwarz-Weiß-Bildern, als Doha noch ein Dorf war, als die Beduinen den Öl- und Gasschatz unter der Erde noch nicht kannten. Lehmputz bröckelt von den Decken, die Fassaden sind viele Male überstrichen. Es gibt eine Straße, in der sich bunte Stoffballen türmen, und eine Gasse nur mit riesigen Metalltöpfen zum Bekochen der Großfamilie.
Die besten Gewürze kauft man bei Shams Al-Qassabi, Mutter von fünf Kindern. Als erste Frau – und gegen viele Widerstände – hat sie im Basar einen Laden eröffnet und betreibt nun auch das Restaurant „Shai Al Shamoos", das bekannt ist für seine traditionellen Gerichte. So erzählt es der Mann, der hier länger zu Hause ist als jeder andere: Saad Ismail Khalifa Al Jassim, 87, war einst Perlentaucher. Nun handelt er nur noch mit den Meeresmurmeln und hat deshalb mehr Zeit, um Geschichten zu erzählen. Am liebsten seine eigene: Wie er als Junge zur See fahren musste, wie hart das Leben war, und wie viel besser es heute ist.
Nicht minder spannend ist aber, was der alte Mann von seinem neuen Zuhause berichtet. Was so authentisch aussieht, als stamme es aus „Tausendundeine Nacht", wurde vor gerade mal 15 Jahren gebaut, nachdem der alte Basar abgebrannt war und es Überlegungen gab, die Ruinen einfach abzureißen. Der Souq Waqif soll nur alt aussehen und ist in Wahrheit neu, errichtet nach den Kindheitserinnerungen von Scheich Hamad bin Khalifa Al Thani. Der Vater des heutigen Emirs hatte die Modernisierung des Landes vorangetrieben, hegte dann aber Bedenken, die Vergangenheit werde durch den Boom ausgelöscht. Es hat geklappt: Einheimische, Gastarbeiter, inzwischen auch die Touristen – alle nehmen sie im Alltag den Basar an, als habe es ihn so schon immer gegeben.