„Think positive" – über den fragwürdigen Wettbewerb um das breiteste Lächeln
Du scrollst wie jeden Morgen über die Liste Deiner abonnierten Podcasts. „Endlich ein optimistisches Mindset entwickeln", „Lass das Gute in dir siegen", „In zwei Wochen vom Nörgler zum Nice Guy". Dein Smartphone muss über Nacht im Magnetfeld der wundervollen Möglichkeiten geschwebt sein. Frisch animiert fasst Du Dir an die Stirn, reibst Dir kreisend die Falten und sprichst: „Konzentriere dich, ‚think positive‘, du kannst das …"
Doch es tut sich: nichts. Warum? Weil Emotionen häufig mächtig wie ein Achttausender in uns sitzen – und den kratzt es nicht im Geringsten, wenn man ihn mit ein paar Knallerbsen der Vernunft bewirft. Wer trauert, möchte heulen, nicht singen. Wer zornig ist, möchte toben, nicht schmunzeln. Speziell wenn es um gewaltige Einschnitte – von Jobverlust über Krankheit bis Krieg – geht, lassen sich negative Gefühle nicht einfach zur Seite schieben. Affirmationen wie „Jede Zelle deines Körpers ist glücklich" sind dann blanker Selbstbetrug.
Bemühen wir zur Illustration dieser These erregte Figuren der Popkultur. Stellen wir uns vor, jemand wagte es, die in Liebeskummertränen badende Adele mit wolkigen Impulsen zu besänftigen: „Kleines, glaub mir, du wirst über dein Leid hinwegkommen, wenn du es nur willst." Geschenkt, sich deren wuchtiges Echo auszumalen: „Hello?! Someone like you tells me what to think? Leave me alone, arsehole, enjoy your hometown glory!"
Wäre er gnädig genug gewesen, den Kopf überhaupt zu heben, hätte Kurt Cobain dem soufflierenden „Lach-doch-mal"-Mahner seine Jag-Stang über die Rübe gebraten. Und „How-dare-you"-Greta? Sie würde garantiert keine Skrupel verspüren, ein beschwichtigendes „Auch morgen werden Äpfel wachsen" mit einem gezückten Schweizer Taschenmesser zu beantworten – um einen ungespritzten Granny Smith aufzuschneiden und unter Klimaskeptikern zu verteilen.
Es ist ein Segen, dass ein Fingerschnippen nicht ausreicht, uns in eine Armee der Glückseligen zu verwandeln. Unzählige aus mentaler Verrücktheit entsprungene Ausnahmewerke wären uns vorenthalten geblieben: Kurzgeschichten von Kafka, Skulpturen von Rodin, Thriller von Hitchcock. Ganze Musikgenres – von Dark Wave über Lo-Fi bis Emo-Rap – ziehen ihren Nektar aus Enttäuschung und Schmerz.
Wie der Psychologe James Pennebaker herausfand, können melancholische Melodien sogar Gefühle von Transzendenz, Friedfertigkeit und Nostalgie in uns auslösen. Er rät Trübsal blasenden, selbst zum Füller zu greifen, denn „expressives Schreiben" helfe, dunkle Zustände zu durchschreiten, unbekannte Räume zu öffnen. Das Prinzip „Think positive" verzichtet hingegen darauf, tiefer zu graben, und setzt kurzerhand – als genüge es, einen Knopf zu drücken – das Glück an die Stelle des Unglücks. Ein Wenn-dann-Schema, das gefährlich verlockend erscheint.
Die überbordende Positiveness ist Symptom einer standardisierenden Gesellschaft, die dem Zögern und Taumeln kaum Raum lässt. Wir fühlen uns unter Druck gesetzt, dieses Spiel mitzuspielen, den Mantel der Leichtigkeit überzuwerfen, immer und überall; denn wir möchten nicht als Verlierer gelten.
Dabei produziert gerade der Zwang, die beste aller Launen vor sich herzutragen, Ratlosigkeit und Frust. Und selbst wenn sich das Mantra im Innern festsetzt – beißt sich die Katze dann nicht in den Schwanz? Wer freut sich noch über eine bestandene Prüfung, wenn er von vornherein weiß, er werde sie meistern? Und ist es nicht riskant, die Herausforderungen auf dem Weg auszublenden?
„Think positive" ist das „Weiß" in einer komplexen Welt, die Grautöne benötigt. Der neue Goldstandard lautet daher: „Think it through". Klingt nicht sexy, provoziert die Hirnwindungen, ist aber das angemessene Maß. Und genau deswegen entschließt Du Dich, auf Deinem Smartphone aufzuräumen: Klick. Ein perlweißes Coachgrinsen – gelöscht. Klick. Ein gebräunter Motivationszeigefinger – gebannt. Klick. Übergeschlagene Beine auf einer Freud-Couch – entfernt. Dann legst Du eine Platte von Lana del Rey auf. Und öffnest den Glückskeks von gestern Abend. Der Tag kann beginnen.