Selbst renommierte Politiker ziehen Vergleiche zu den Nachkriegsjahren. Das mag übertrieben sein. Aber die Warnungen wirken. Deutschland übt sich in diesem Herbst im Einkochen von Obst, im Wasservorrat-Anlegen und vor allem im Brennstoff-Horten.
Isabelle R. sitzt auf einer alten Holzbank mit kleinen Tisch am Rande eines großen Feldes mitten in Berlin, Ortsteil Spandau. Dort hat sie im letzten Sommer einen Acker gepachtet, eine Furche von drei Metern Breite und gut 50 Meter Länge: überschaubare 150 Quadratmeter Ackerfläche für die Selbstversorgung. Und da kommt die Mutter der beruflich Filmschaffenden ins Spiel.
„Ich habe bewusst noch nie so viele lebenswichtige Tipps von meiner Mutter erhalten wie im letzten halben Jahr", erzählt Isabelle R. bei einem Ingwer-Tee. Nun befindet sich die 52-Jährige aus Berlin-Schöneberg keineswegs in einer tiefen Lebenskrise, sondern ganz im Gegenteil, sie bereitet sich – für ihre Begriffe – mit „Wumms" (um in der Sprache der Zeit zu bleiben) auf den bevorstehenden Winter vor. Bis zum letzten Sommer hat sie zwei Blumenkästen auf dem Balkon ihrer Hinterhofwohnung im vierten Stock „bewirtschaftet". „Der Acker war eigentlich als Blumen- und Kräuterbiotop gedacht, doch mit dem Ukrainekrieg hat das nun alles eine ganz andere Dimension."
Rückbesinnung auf alte Tugenden
Eine „andere Dimension" hat Isabells 88-jährige Mutter Hilde selbst noch bei der Berlin-Blockade 1948/49 als Teenagerin erlebt. Die Russen blockierten von Juni 48 bis Mai 49 den Zugang zu West-Berlin und Hilde hatte damals wenige Meter vom Brandenburger Tor im Tiergarten entfernt einen ähnlichen, von der Stadt zugeteilten Acker bestellt. Bäume gab es damals im Tiergarten nicht mehr, die wurden bereits in den beiden Kriegswintern zuvor verheizt. Nun, 70 Jahre später, steht Hildes Tochter genau vor den gleichen Fragen, die schon die Mutter als junges Mädchen beschäftigt hat. Wie ringt man dem märkischen Boden irgendetwas Essbares ab? Wobei Isabelle gleich am Anfang des Gesprächs energisch klarstellt: „Die heutige Situation ist um Gottes Willen nicht mit der von 48/49 hier in Berlin zu vergleichen. Aber in Anbetracht der Preissteigerungen in den letzten Monaten bin ich froh, den Acker zu haben. Ich habe viel Geld gespart, denn alles Obst und Gemüse in diesem Sommer habe ich selber angebaut." Faustformel der Neu-Landfrau aus der Großstadt: Kartoffeln, Kohlrabi, Karotten und Radieschen gehen im Berliner Boden immer. Spargel dagegen ist Saison und lässt sich nur schwer für den Winter aufbewahren. Seit Wochen ist Isabelle in ihrer Freizeit auf ihrem Acker zum Ernten, Umgraben und Neuanpflanzen. Selbst die Ende September ausgesäten Radieschen sind noch gekommen. Doch zwei Stunden Ernte heißen für die 52-Jährige anschließend gut und gern fünf Stunden Küche: Einkochen, nach telefonischer Anweisung ihrer Mutter. „Bei uns im Altbau gibt es ja noch die ehemaligen Toiletten auf halber Treppe, die habe ich für einen schmalen Taler angemietet, und das ist jetzt meine Speisekammer", freut sich Isabelle. Zwar hat sie einen Kellerraum, doch da ist längst kein Platz mehr für Eingewecktes. Da lagert Holz für den Winter. „Ich bin jetzt echt kein Prepper, aber bereits vor fünf Jahren habe ich mir einen Kaminbrenner ins Wohnzimmer gestellt, mit langem Ofenrohr, das ist einfach gemütlicher", und heute in einer Mietwohnung mit Gastherme für Heizung und Warmwasser der neue Goldstandard für Behaglichkeit im kommenden Winter. Allerdings ist die Brennstoffbeschaffung spätestens seit dem Sommer kritisch. Infolge von explodierenden Gas- und damit Strompreisen sind auch die Preise für Brennholz durch die Decke gegangen. Der Kubikmeter für 250 bis 300 Euro gelten in diesem Herbst als echtes Schnäppchen. Dabei handelt es sich nicht um Hartholz-Edel-Brenner wie Eiche oder Esche. Selbst ist die Frau und Isabelle sammelt seit dem Frühsommer fleißig Bruchholz in den Berliner und Brandenburger Wäldern. „Ich marschiere da nun nicht mit einer Säge in die Wälder und hau um, was rumsteht, sondern sammele einfach nur die Äste vom Boden auf und mach die klein."
Die Bemerkung ist der 52-Jährigen wichtig, sie will keinen Ärger mit den Strafverfolgungsbehörden. Denn der Holzklau in deutschen Wäldern hat mittlerweile selbst den Bundesverband der Waldbesitzer und die Forstämter auf den Plan gerufen. Bundesweit bleibt es längst nicht mehr beim Aufsammeln von Ästen. Organisierte Banden räubern seit dem Spätsommer geschlagenes und aufgestapeltes Holz professionell mit großem Transportgerät. Darum werden seitdem solche Stapel mit Funk-Transpondern ausgestattet. Im Herbst 2022 geschlagene Baumstämme werden mit Funkchips ausgestattet, um bei Diebstahl ihren Verbleib sogar grenzübergreifend verfolgen zu können.
Vernünftige Vorsorge ist kein Preppertum
Private Verbraucher haben aber vor dem Holzsammeln noch ein ganz anderes Problem: eine offene Verbrennungsstelle in ihrer Wohnung einzubauen. Der Bezirksschornsteinfeger von Berlin-Kreuzberg bestätigt das nur zu gern. Alain Rappsilber geht unter in Anfragen zur Prüfung von stillgelegten Rauchabzügen in den Altbauwohnungen, die es in seinem Bezirk zuhauf gibt. „Oft muss ich die Menschen enttäuschen. Viele Kaminzüge sind in den letzten Jahrzehnten zugemüllt oder einfach zugemauert worden, damit kann so ein neuer Kaminofen nicht mehr betrieben werden", so Rappsilber. Ganz abgesehen von dem Umstand, dass diese derzeit zu vernünftigen Preisen auch gar nicht mehr erhältlich sind; und sollte man einen kriegen, hat zumindest Schornsteinfeger Rappsilber in den kommenden Monaten keinen freien Termin mehr, um den dann ordnungsgemäß zuzulassen. Schließlich haben er und seine Kollegen bundesweit den Regierungsauftrag, bestehende Gasthermen und Ölbefeuerungsanlagen auf die richtige Einstellung zu überprüfen.
Romantisch befeuert hatte Isabelle R. vor fünf Jahren den richtigen Riecher und dann auch noch das Glück gehabt, dass ihr Kaminabzug noch funktionierte. Dazu ist ihr Keller voll mit Brennholz, nicht nur gesammelt, sondern auch gekauft. Doch selbst da wird es eng. Viele kleine Holz- und Kohle-Brennstoffhändler stehen vor der Aufgabe ihres Geschäfts. Welt verkehrt inmitten der Energiekrise und der Riesennachfrage von Besitzern offener Verbrennungsstätten. Sie leiden unter den hohen Einkaufspreisen, die sie längst nicht mehr an ihre Kunden weitergeben können. Da geht es ihnen ähnlich wie den Bäckermeistern der Republik. „Den Kubikmeter Brennholz für 300 Euro, da fragen mich doch meine Kunden, ob ich noch alle Tassen im Schrank habe", bringt ein alteingesessener „Holzbrenner" das Problem auf den Punkt.