Güstrow und Barlach – das ist eins. Hier lebte und wirkte der Bildhauer, Zeichner und Dichter Ernst Barlach, nachhaltig prägten seine Arbeiten die Kunst der Moderne.
Schmale Gassen mit Kopfstein gepflastert. Viel Fachwerk. Imposante Backsteinhäuser. Ein prächtiges Renaissanceschloss. Und rings um die mecklenburgische Kleinstadt liegen Felder, Wald und ein idyllischer See. Unweit des Inselsees, umgeben von hochgewachsenen Bäumen lugt das imposante Atelierhaus des großen Künstlers hervor.
1870 wurde Ernst Barlach in Wedel geboren. Nach seinen Lehr- und Wanderjahren in Deutschland, Paris, Russland und Italien empfand Barlach die Landschaft um Güstrow für seine Arbeitsweise als perfekt. Weg von der Reizüberflutung der Großstädte, schätzte er die charmante Altstadt und die Spaziergänge in der Natur.
In Briefen an Freunden schreibt er: „Güstrow kann sich sehr wohl neben eine toskanische Stadt stellen. Es ließe sich schon leben an diesem Ort." Im Alter von 40 Jahren schlug er in der mecklenburgischen Kleinstadt dann Wurzeln. Hier schuf er bis zu seinem Todd 1938 einen Großteil der berühmten Plastiken, eine Fülle von Zeichnungen und Druckgrafiken sowie Dramen und Prosa und er schrieb zahlreiche Briefe.
Landschaft perfekt für Arbeitsweise
In Güstrow entschloss sich Barlach nach einigen Jahren dafür, in ein größeres Anwesen, in sein repräsentatives Atelier-Haus zu ziehen. Zwar merkte er, dass seine Holzskulpturen kaum noch gekauft wurden. Doch für umfangreichere Projekte brauchte er mehr Platz. Doch trotz der idealen Arbeitsbedingungen wurde er mit dem großen Haus nie ganz warm. Denn einerseits brauchte er die Ruhe und Abgeschiedenheit, andererseits war es für ihn nicht leicht, in dieser Einsamkeit zu leben, kannte er doch das turbulente Leben in Berlin. Oft ging er zum Bahnhof, um die Züge Paris – Berlin vorbeifahren zu sehen. Und er versuchte, wenigstens schriftlich die Kontakte zu seinen Künstlerkolleginnen und Kollegen zu pflegen – und verfasste mehr als 2200 Briefe.
Hinter Birken, Eichen und Buchen lugt das 1930/31 errichtete Atelierhaus am Heidberg hinter dem Museumsneubau hervor. Seit 1978 ist es für Besucher geöffnet und präsentiert neben Werken wie „Singender Mann", „Der Träumer" und den Entwürfen für Barlachs zahlreiche Mahnmale einen Einblick in das Leben des vielseitigen Künstlers. Seine Bedeutung im Kunstkanon des 20. Jahrhunderts verdankt Barlach vor allem seinen Holzskulpturen. „Der Zweifler" oder „Lachende Alte" gehören zu den Meisterwerken des deutschen Expressionismus. Die „Lachende Alte" versprüht eine freudige Vitalität trotz ihres nach vorn gebeugten Körpers. Es scheint, als wiege sie sich vor Heiterkeit hin und her, mit dem Blick zum Himmel gerichtet, eine für Barlach charakteristische, religiös anmutende Haltung.
Barlach selbst empfand sich nicht als großen Künstler. So interessierte ihn fast ausschließlich der Mensch und sein Inneres. Emphatisch beschäftigte er sich mit einfachen Leuten, mit ihren Emotionen, Sorgen und Nöten. Immer wieder stellte er sich in seinen Werken den Themen Leid und Elend, Schmerz, Einsamkeit, aber auch Würde und Entschlossenheit.
Barlach und die Jungen Wilden
Um den Menschen geht es auch im neuen Ausstellungsforum vor dem AtelierHaus. Hier finden regelmäßig wechselnde Sonderausstellungen zu Ernst Barlach und der Kunst der klassischen Moderne statt. Aktuell geht es auch um menschliche Figuren, um den menschlichen Körper. Zehn renommierte, zeitgenössische Künstlerinnen und Künstlern stellen an die 50 Arbeiten aus den Bereichen Bildhauerei, Malerei, Grafik und Videokunst aus. „Barlach und die jungen Wilden" heißt die Ausstellung, die im Dialog mit Werken Ernst Barlachs drängende politische und soziale Themen aufgreift und kritisch hinterfragt.
Nicht weit vom Güstrower Stadtzentrums entfernt, befindet sich die Gertrudenkapelle in einem kleinen, romantischen Park. Ein spätgotischer Backsteinbau aus dem 15. Jahrhundert. Bis in die Mitte des 16. Jahrhunderts war die Kapelle Siechenanstalt, später Friedhofskapelle. 1936 nutzten die Nationalsozialisten sie als „Ahnenhalle". Anfang der 50er-Jahre wurde hier das erste Barlach-Museum eröffnet.
Eine stille, ruhige Atmosphäre geht von dem Park aus, in dem verschiedene Skulpturen stehen. Wie zum Beispiel die beeindruckende „Mutter Erde". Durch hohe Fenster der einschiffigen Kapelle dringt Sonnenlicht, das auf die etwa 30 Plastiken und Reliefs von Ernst Barlach fällt. Die Kapelle ist minimalistisch ausgestattet, dadurch wirken die Skulpturen auf hohen quaderförmigen Sockeln umso beeindruckender. Unter ihnen „Lesender Klosterschüler", „Die gefesselte Hexe", „Der Zweifler", der Entwurf der Heiligen für Lübeck mit einem Bettler in der Mitte oder „Frau im Wind", die alle in seiner Güstrower Zeit entstanden sind.
Berühmteste Barlachstätte
Doch die wohl bekannteste Plastik des Expressionisten hängt im Güstrower Dom, dem ältesten Bau der Stadt im Stil der Norddeutschen Backsteingotik. Der „Schwebende", auch „Schwebender Engel" genannt, ist längst zum Markenzeichen der Stadt geworden. Die 1927 geschaffene überlebensgroße Skulptur ist vollständig aus Bronze gegossen und soll an die Opfer des Ersten Weltkrieges erinnern. Im südlichen Seitenschiff schwebt der Engel waagerecht über den Köpfen der Betrachtenden, in einem Raum der Ruhe, so hatte es sich der Künstler gewünscht.
Die Gesichtszüge des Engels haben eine entfernte Ähnlichkeit mit der befreundeten Künstlerin Käthe Kollwitz. Barlach sah sie symbolhaft für alle Mütter, die im Krieg Kinder verloren hatten. „In den Engel ist mir das Gesicht der Kollwitz hineingekommen, ohne dass ich es mir vorgenommen hätte. Hätte ich so was gewollt, wäre es wahrscheinlich missglückt", schrieb er seinem Freund und Verleger Reinhard Piper.
Im August 1937 wurde der Schwebende als „entartete Kunst" aus dem Güstrower Dom entfernt und später von den Nationalsozialisten für Rüstungsgüter eingeschmolzen. Freunde Barlachs haben 1939 mit großem Einsatz einen Zweitguss herstellen lassen. Einen Drittguss gab es dann in den 1950er-Jahren, dieser wurde zunächst im westlichen Joch des Südschiffs aufgehängt. Seit 1985 schwebt der „Engel" nun an dem für ihn ursprünglich vorgesehenen Platz und gilt als eindrucksvoller Mahner gegen Krieg und Gewalt.