Die Corona-Herbstwelle scheint etwas innezuhalten, ein erster Höhepunkt ist erreicht. Gleichzeitig wächst die Sorge vor einer „Twindemie" aus Corona und Grippe. Trotz Appellen gibt es in Sachen Impfen wenig Neues.
Die Zahlen waren schon mal höher. Seit Mitte Oktober weisen die Inzidenzwerte eine rückläufige Tendenz auf. Grund zur Entwarnung dürfte das allerdings nicht sein. Krankenhäuser melden Belegzahlen mit Corona-Patienten, die an die Höchststände während der letzten Welle erinnern. Daran haben tagesaktuell sinkende Infektionszahlen nichts geändert. Das Problem ist zudem bekanntlich der Personalausfall aufgrund von Corona-Erkrankungen. Und derzeit ist noch nicht absehbar, ob sich nicht parallel zu Corona eine Grippewelle aufbaut.
Die Rede ist bereits von einer „Twindemie". Gemeint ist damit die gleichzeitige, also sozusagen zwillingshafte Ausbreitung beider Viren. Experten äußerten die Befürchtung, dass sich nach zwei Jahren, in denen die übliche Grippewelle fast ganz ausgeblieben ist, der Grippevirus umso intensiver verbreiten könne. Während der Lockdowns zu Beginn der Corona-Pandemie zeigte sich: Die sonst schon fast gewohnte Grippewelle blieb aus. Denn die bekannten Maßnahmen wie Masken tragen, Abstand halten und Kontakte reduzieren hilft generell gegen die Weiterverbreitung von Viren, egal ob Corona- oder Influenza-Viren.
Für die Entwicklung einer solchen „Twindemie" sprechen die Zahlen von Mitte Oktober. Gleichzeitig zu Höchstständen in Sachen Corona verzeichnete das RKI eine ebenso steile Entwicklung bei anderen akuten Atemwegserkrankungen. Die Zahlen lagen sogar deutlich höher als bei den letzten Höchstständen während der Grippewelle 2017/2018.
„Twindemie" könnte den Herbst bestimmen
Interessanterweise zeigte sowohl bei Corona- als auch Grippevirus die Zahl der Fälle in der zweiten Oktoberhälfte zunächst leicht rückläufige Tendenz. Damit gibt es zumindest einen zeitlichen Zusammenhang mit den massiven dringenden Appellen aus Politik, Wissenschaft, von Ärzten und vielen anderen, die zur freiwilligen Vorbeugung mit den bekannten Maßnahmen aufgerufen hatten. Ob es tatsächlich einen ursächlichen Zusammenhang mit den Appellen gibt, ist schwierig nachzuweisen. Offenkundig hat sich aber etwas getan, nachdem auch Meldungen von immer neuen Höchstständen erwarten ließen, dass bei anhaltend stark steigender Zahl von Fällen einschneidende Maßnahmen drohen.
Im Saarland, das mit Abstand bundesweit am stärksten betroffene Land in dieser Phase, stand das offensichtlich kurz bevor. Bei einer 7-Tages-Inzidenz von über 1 600 in der Spitze, doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt, wurden bis 4 000 Neuinfektionen an einem Tag gemeldet (RKI-Angaben). Die Zahlen dürften bei der bekannten eingeschränkten Aussagekraft der 7-Tages-Inzidenz entsprechend deutlich höher gelegen haben. Inzwischen ist die 7-Tages-Inzidenz am 24. Oktober erstmals wieder knapp unter die Marke von 1.000 gefallen, liegt damit aber weiter fast doppelt so hoch wie der Bundesdurchschnitt (584,0).
Stephan Ludwig, Direktor am Institut für Molekulare Virologie, Westfälische Wilhelms-Universität Münster, betont: „In den vergangenen beiden Wintersaisons ist die Grippewelle bei uns ja sozusagen ausgefallen, was insbesondere auf die Schutzmaßnahmen gegen Coronaviren – wie Abstand halten und Masken tragen – zurückzuführen ist. Mit den Lockerungen ist die Gefahr einer Grippe-Ausbreitung natürlich auch wieder gegeben". Und die könnte tückisch werden. „Die Vergangenheit zeigt, dass auf Jahre mit schwächeren Grippewellen meist wieder eine stärkere Grippewelle folgt. Dies liegt daran, dass die Erreger mehr Zeit hatten, sich zu verändern und so einer über die schwächeren Jahre hinweg schlecht angepassten Immunität in der Bevölkerung entkommen können". Wobei der Experte ergänzt: „Die gute Nachricht: Gegen beide Erreger kann man sich impfen lassen, sogar gleichzeitig".
In der Tat lässt sich in den letzten Wochen wieder eine gestiegene Impfbereitschaft erkennen, allerdings unterschiedlich ausgeprägt. Dabei haben vermutlich zwei Entwicklungen einen Anteil. Zum einen, dass inzwischen die angepassten Impfstoffe verlässlich zur Verfügung stehen, zum anderen eben der Auftakt der Herbstwelle. Insbesondere die Bereitschaft zu Booster-Impfungen ist erkennbar gewachsen. Im Saarland als am stärksten betroffene Region meldet die Kassenärztliche Vereinigung eine Verdreifachung der Impfzahlen in Arztpraxen seit Mitte September. Dabei entfallen über 70 Prozent auf eine zweite Booster-Impfung für Menschen über 60, ein beträchtlicher Anteil auch auf die erste Auffrischungs-Impfung. Dass sich bislang Ungeimpfte nun für eine Impfung entscheiden, ist nicht festzustellen. Gerade mal 21 Erstimpfungen verzeichnet die Bilanz für den Drei-Wochen-Zeitraum.
Das Bild entspricht dem Trend der Bundesentwicklung. Nach dem Impfdashboard der RKI hat sich die Zahl der Erstimpfungen seit Februar nach dem rapiden Anstieg der letzten Herbst- und Winterwelle nur geringfügig erhöht, von 64,0 auf 64,8 Millionen Menschen in Deutschland. Ähnliches gilt für die Grundimmunisierung (Zweitimpfung), Kontinuierlich gestiegen ist die Zahl der Auffrischungs-Impfungen und zuletzt der zweiten Booster-Impfung. Der Trend des letzten halben Jahres legt nahe, dass bisher Ungeimpfte kaum noch von der Sinnhaftigkeit einer Impfung zu überzeugen sind. Es bleibt also bei einem Anteil von etwas unter einem Fünftel der Bevölkerung in Deutschland (ohne die Kinder, für die es bislang keine Impfempfehlung gab), der für Impfungen nicht erreichbar zu sein scheint.
Maskenpflicht bleibt Dauerthema
Im europäischen Vergleich liegt Deutschland mit einem Anteil von 77,8 Prozent Menschen mit mindestens einer Impfung und 76,3 Prozent mit Grundimmunisierung unverändert weit hinter impffreudigen Ländern wie Portugal (94,6 mindestens eine Impfung), Spanien (87,7 Prozent), Italien (85,2 Prozent) und Frankreich (83,8 Prozent), alle nach Statista-Angaben Stand 5. Oktober 2022).
In den letzten Tagen hat die Debatte um Aufhebung der Teil-Impfpflicht für Mitarbeitende im Gesundheitsbereich wieder Fahrt aufgenommen. Die einrichtungsbezogene Impfpflicht gilt bis Ende des Jahres. Zuletzt hatten sich nur einige Bundesländer für eine Aufhebung ausgesprochen. Ohnehin hatten etliche Gesundheitsämter die Umsetzung (mit Betretungsverboten) so zögerlich behandelt, dass von einer konsequenten Umsetzung kaum die Rede sein konnte. Nach letzten Angaben sollen knapp 20.000 Beschäftigte ohne gültige Impfung sein. Das Hauptargument gegen eine Verlängerung: Impfung schützt nicht vor Ansteckung, wer sich selbst angesteckt hat, kann auch andere infizieren. Das Risiko ist zwar geringer, aber nicht ausgeschlossen. Dahinter steht aber sicher auch die bekannte Personalknappheit in Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen. Gesundheitsminister Karl Lauterbach hat bislang keine sonderliche Begeisterung für die Debatte erkennen lassen.
Auch ansonsten gehen die Diskussionen über richtige Wege in der Pandemiepolitik ungemindert weiter. Amtsärzte fordern bundeseinheitliches Vorgehen. Wenn Inzidenzahlen zwischen 500 und tausend liegen, müsste in Hamburg das Gleiche gelten wie in München, fordert zuletzt der Vorsitzende des Bundesverbands der Ärztinnen und Ärzte des öffentlichen Gesundheitsdienstes, Johannes Nießen.
Zum ersten Höhepunkt der Herbstwelle war aber vor allem zu sehen, dass die Länder von den Möglichkeiten des erst im September verabschiedeten neuen Infektionsschutzgesetzes alles andere als einen offensiven Gebrauch machten. Im Saarland blieb es, wie geschildert, selbst bei Inzidenzen deutlich im vierstelligen Bereich bei Appellen.
Und die Vorsitzende der Gesundheitsministerkonferenz, Sachsen-Anhalts Gesundheitsministerin Petra Grimm-Benne, hat das Thema Maskenpflicht im ÖPNV ("zur Vergewisserung") und in Innenräumen („kompliziert") auf die Tagesordnung der Gesundheitsministerkonferenz gesetzt. Womit gegen Ende des dritten Pandemiejahres die bekannten Themen einmal mehr die Agenda bestimmen.