Die Französin Hélène Leveau und die Amerikanerin Aviva Rose-Williams von der Artistentruppe Collectif À Sens Unique zeigen bei LOOSTIK!, dem deutsch-französischen Festival für junges Publikum, ihr Stück „Mule".
Hélène Leveau und Aviva Rose-Williams sind Ikarier, Spezialistinnen einer Disziplin, bei der eine Akrobatin mit der Kraft ihrer Beine und Füße ihre Partnerin durch die Luft wirbelt. Kunststücke dieser Art wurden traditionell von Vater und Sohn einer Zirkusfamilie dargeboten, man könnte sagen, der Vater ermöglichte dem Sohn das Fliegen. Und so leiten die Ikarischen Spiele ihren Namen auch von der griechischen Sagengestalt des Ikarus ab, dessen Vater Dädalus ihm aus Vogelfedern und Wachs ein Flügelpaar fertigte. Zwischen Training, Workshops und Auftritten geben die beiden Artistinnen im Proberaum eines Theaters im bretonischen Rennes ein Telefon-Interview.
Hélène und Aviva, euer Stück hieß ursprünglich „Hedgehog’s Dilemma" (Igel-Dilemma). Was steckt hinter diesem Titel?
Aviva: Wir haben ihn in Anlehnung an Schopenhauers Gleichnis von den Stachelschweinen gewählt: An einem Wintertag versuchen ein paar Stachelschweine sich näherzukommen, um sich zu wärmen und sich vor dem Erfrieren zu schützen. Doch je näher sie zusammenrücken, umso stärker schmerzen die Stacheln der anderen.
Auf den Menschen übertragen: Aus der Eintönigkeit und Leere des Lebens entspringt das Bedürfnis nach Gemeinschaft und Solidarität. Oder wie bei Ikarus: Fliegst du zu hoch, versengt dich die Sonne. Fliegst du zu tief, verschlingt dich das Meer.
Hélène: Genau. Es geht um den schmerzhaften Prozess des Menschen, in seinen Beziehungen das rechte Maß an Nähe und Distanz zu finden. Er sucht die Nähe, wird aber gleichzeitig von den schlechten Charaktereigenschaften und Fehlern der anderen abgestoßen.
Aviva: In unserem Stück erforschen wir das fragile Gleichgewicht einer menschlichen Beziehung, die zugleich zärtlich und kompliziert ist. Das tun wir auf fröhliche, humorvolle, melancholische, manchmal grausame Weise. Und mit viel Ironie.
Warum habt ihr euer Stück in „Mule" (Maultier) umbenannt?
Hélène: Einerseits aus einem ganz praktischen Grund: Für unser französisches Publikum war der englische Titel eine Herausforderung, also haben wir nach etwas Kürzerem gesucht, das sich gut aussprechen lässt und leicht verständlich ist. Mule, also Muli, ist perfekt, denn das Wort kann man gleich in mehreren Sprachen verstehen.
Aviva: Zum anderen dachten wir, Mulis sind trittsicher, ausdauernd, besonnen, gesellig, aber sie gelten auch als störrisch. Das sind alles Charaktereigenschaften, die die Figuren, die wir darstellen, auch haben. Mulis tragen und ertragen. Das haben wir in unserem Stück kombiniert.
Was hat euch zu Zirkusakrobatinnen werden lassen? Ein Kindheitstraum?
Aviva: Ich habe als kleines Mädchen am liebsten Fußball gespielt und den Zirkus erst relativ spät im Teenageralter für mich entdeckt. Bei einem Zirkusbesuch in San Francisco habe ich eine Akrobatik-Nummer gesehen, die mich extrem berührt hat. In dem Moment wusste ich: Das möchte ich auch machen!
Das klingt, als hätte dich der emotionale, poetische Aspekt mehr angesprochen als der körperliche, athletische?
Aviva: Es war beides. Diese Nummer war sehr innovativ, so etwas hatte ich noch nie erlebt. Musik, Choreografie, Emotionen, das war einfach toll! Zum ersten Mal sah ich einen Akrobatik-Akt, der nicht nur eine sportliche Darbietung war, sondern tatsächlich einem Ziel diente, nämlich eine Geschichte zu erzählen.
Hélène: Ich habe schon als Sechsjährige Zirkusunterricht an einem Kinder- und Jugendzentrum genommen. Ich war ganz begeistert vom Cirque Plume, dem bekanntesten und ältesten Vertreter der Nouveau-Cirque-Bewegung in Frankreich. Da gab es keine Tiere, und die Technik mag weniger ausgefeilt gewesen sein als zum Beispiel bei den Amerikanern, aber alles war so poetisch. Diese wunderschönen Shows haben in mir den Wunsch geweckt, mein Hobby zum Beruf zu machen. Ich habe dann die staatliche Zirkusschule in Châtellerault besucht.
Wo seid ihr euch begegnet?
Hélène: In Kanada. Wir haben uns in Québec kennengelernt …
Der Wiege des modernen Zirkus.
Hélène: Ja, wir haben dort gemeinsam die Zirkusschule besucht. Aber wir hatten unterschiedliche Schwerpunkte. Aviva war auf Mast-Akrobatik am sogenannten Chinese Pole spezialisiert, einer vertikalen Stange mit Gummi-Ummantelung. Ich habe mich dem Seiltanz und den Ikarischen Spielen gewidmet.
Aviva: In unserem dritten Ausbildungsjahr haben wir zusammen mit sechs anderen Studenten das Collectif À Sens Unique gegründet. Es sind kleine Solo- und Duo-Formate entstanden, der Grundstein für unser erstes Stück „Léger démêlé".
Hélène: 2013 sind wir dann als Gruppe nach Le Mans gezogen, die Heimatstadt eines unserer Mitglieder. Wir wussten, dass die dortige Zirkusschule Artisten gratis Trainingsmöglichkeiten bietet, und dass der französische Kulturapparat es uns ermöglichen würde, etwas Eigenes auf die Beine zu stellen und mit unseren Stücken auf Tour zu gehen.
Unter anderem hat euch Pina Bausch beeinflusst. Mit ihrem Tanztheater hat sie auch Sozialkritik geübt. Möchtet ihr der Gesellschaft ebenfalls einen Spiegel vorhalten?
Aviva: Das steht nicht im Vordergrund. Es geht uns in erster Linie um die akrobatischen Figuren, um Choreografie, Musik, Theater. Aber wir machen viele Schulveranstaltungen, und bei den anschließenden Diskussionen spielen gesellschaftliche Probleme immer eine Rolle. Die Kinder ziehen Parallelen zu Situationen, die ihnen auf dem Schulhof und im Alltag begegnen. Einsamkeit und Mobbing sind zum Beispiel solche Themen.
Hélène: Direkt nach der Aufführung sind die Kinder sehr aufgewühlt. In „Mule" durchbrechen wir in gewisser Weise die vierte Wand …
Die imaginäre Wand, die das Publikum vom Bühnengeschehen trennt.
Hélène: Exakt. Die Kinder sind sich nicht sicher, ob das, was sie auf der Bühne sehen, nur gespielt ist oder echt. Sie sind total fasziniert und fragen: „Warum warst du so gemein zu ihr?" oder „Hast du das mit Absicht getan?" und „Bist du wirklich gefallen?" Sie wollen wissen, ob wir improvisieren.
Wie bleibt ihr körperlich und mental in Form?
Aviva: Die Aufführungen halten fit, und ich treibe sehr gerne Sport in meiner Freizeit. Nicht, weil ich denke, ich müsste einem strengen Plan folgen, um fit zu bleiben, sondern aus Spaß, als Hobby. Ich jogge, schwimme, und wenn ich zu Hause in den USA bin, spiele ich Basketball.
Hélène: Für mich sind Ausdauer und Muskelaufbau wichtig, also mache ich Krafttraining. Um flexibel und gelenkig zu bleiben, praktiziere ich Yoga, gut für Körper und Geist. Ansonsten trainieren Aviva und ich auch zusammen, dann gehen wir ein Stück drei-, viermal am Tag durch.
Aviva: Und am Abend vor einer Aufführung trinken wir natürlich keinen Alkohol.
Habt ihr Rituale vor einem Auftritt?
Hélène: Bevor die Show beginnt und wir im Dunkeln hinter dem Vorhang stehen…
Aviva: … umarmen wir uns.
Hélène: Ja, und dann betreten wir gut gelaunt und lächelnd die Bühne.