Die jüngste Steuerschätzung geht für die nächsten drei Jahre von Mehreinnahmen im dreistelligen Milliardenbereich aus. Das weckt Begehrlichkeiten, denn die Aufgaben sind groß. Aber das Geld ist weitgehend verplant.
Bundesfinanzminister Christian Lindners Auftritt zum Ergebnis der Herbst-Steuerschätzung läuft gewohnt routiniert ab: schnellen Schrittes zum kleinen Rednerpult mit eingelassenem Mikrofon, das Jackett sportlich offen. Doch seine Mimik spricht eine genau gegensätzliche Sprache, was seine Zuhörer reichlich irritiert. Immerhin musste Lindner diesmal nicht neue Haushaltslöcher verkünden – sondern Steuermehreinahmen in den kommenden drei Jahren von mehr als 126 Milliarden Euro. Eine Steigerung in bislang noch nie dagewesener Höhe und das bei sich abschwächender Konjunktur. Doch dem Finanzminister ist klar, solche (wohlgemerkt „geschätzten") Mehreinahmen wecken viele Begehrlichkeiten nicht nur seiner Ministerkollegen im Bundeskabinett. Vor allem, da sich bei zu erwartenden Steuer-Rekordeinnahmen von weit über 40 Milliarden allein im kommenden Jahr auch der Rahmen für die zulässige Neuverschuldung im Bundeshaushalt so gut wie verdoppelt.
Der oberste Kassenwart der Republik wurde indes nicht müde, beinahe in jedem Satz dem Eindruck zu widersprechen, es stehe Geld in Hülle und Fülle für den kommenden Bundeshaushalt zur Verfügung. Der Entwurf dafür wird gerade im Bundeskabinett „finalisiert".
Hintergrund für den Einnahmesegen ist die mittlerweile höchste Inflationsrate in der Geschichte der Bundesrepublik. Höhere Preise für Energie, Lebensmittel und Konsumgüter bedeuten auch immer höhere Steuereinnahmen. Davon profitieren nicht nur Lindners Ministerkollegen in der Bundregierung. Auch die Ministerpräsidenten sehen sich in ihren Forderungen nach mehr finanziellen Hilfen durch den Bund voll bestätigt.
Zähes Ringen um Verteilung
Ganz aktuell geht es um zwei Themen, die den Ländern geradezu auf den Nägeln brennen: die Kosten für die Flüchtlingsunterbringung und das 49-Euro-Ticket. Gerade bei Letzterem ist den Ländern unterdessen die Zeit längst davongelaufen. Um das Klima-Ticket noch pünktlich zum ersten Januar „ruckelfrei" einführen zu können, hätte der Bundesrat die jüngste Verabredung dazu spätestens in seiner Sitzung Ende Oktober absegnen müssen. Nun wird das 49-Euro-Ticket vermutlich erst im Februar kommen – oder später. Für die Ministerpräsidenten der Länder ist es zwar beschlossene Sache, aber auf der Ministerpräsidentenkonferenz in Hannover Mitte Oktober haben die Länderchefs neue, finanziell weitreichende Forderungen an den Bund formuliert. Dieser soll mehr Geld für die Regionalisierungsmittel (mit denen die Länder den Regionalverkehr finanzieren) bereitstellen. Bundeskanzler Scholz hatte den Ländern ein Entgegenkommen signalisiert. Aber eine Einigung war noch nicht in Sicht. Es geht um Zahlungen des Bundes, mit denen die Länder beim Ausbau und Erhalt des ÖPNV-Angebots unterstützt werden sollen. Doch nun drohen diese Gelder des Bundes durch die explodierten Energiepreise aufgefressen zu werden. Eigentlich müssten die Verkehrsverbünde in den Ländern die bisher regulären Fahrpreise um bis zu 30 Prozent erhöhen, um die explodierenden Kosten abzufangen, so ihre Berechnungen. Eine Ausweitung der Landesmittel ist in den meisten Fällen nicht mehr darzustellen. Mit der geplanten Einführung des 49-Euro-Tickets, das bei den Ländern massiv zu Buche schlägt, wären die Kostensteigerungen nicht mehr abzufangen. Um die zusätzlichen Energiekosten zu kompensieren, müssten die Länder auf die Regionalisierungsmittel des Bundes zurückgreifen, anders ist das nicht zu machen. Eine Folge könnte sein, dass regionale Bus- oder Bahnverbindungen durch die Länder abbestellt werden, um so Geld einzusparen beziehungsweise umzuleiten. Was in einigen Fällen bereits passiert ist.
Doch damit wäre das Klima-Ticket dann vor allem in den ländlichen Räumen völlig ad absurdum geführt. Ein 49-Euro-Ticket für den ÖPNV mit dem Ziel, mehr Fahrgäste zu gewinnen, würde bei reduzierten Angeboten konterkariert. Um das zu verhindern, wollen die Länder mehr Geld. Damit liegt der Klima-Ticket-Ball wieder im Feld der Bundespolitik. Verkehrsminister Volker Wissing und sein FDP-Parteifreund Christian Lindner lehnen eine Erhöhung der Regionalisierungsmittel ab. Nach der jüngsten Steuerschätzung wird es für den Bundesfinanzminister aber immer schwerer, diese Linie durchzuhalten.
Lindner verweist nun darauf, dass ja auch die Länder erhebliche Steuermehreinnahmen hätten. Folglich müssten sie damit ihren Teil für das Klima-Ticket beziehungsweise die höheren Energiepreise im ÖPNV finanzieren. Gegenargument der Länder: Die zu erwartenden Steuermehreinnahmen würden zum Beispiel für die Erhöhung der Hartz-IV-Sätze und vor allem für die Flüchtlingsunterbringung gebraucht. Dazu kommen die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst, die ebenfalls relativ hoch ausfallen – und die Länderkassen zusätzlich belasten dürften. Davon ist angesichts gewerkschaftlicher Forderungen auszugehen, auch wenn die Verhandlungen überhaupt erst beginnen. Darum bleiben die Länder dabei, selbst mit den Steuermehreinnahmen werde es für die Kommunen und Länder im kommenden Jahr nicht ohne weitere Hilfen des Bundes gehen.
Entscheidungen unter Zeitdruck
Der Hauptgeschäftsführer des Städte- und Gemeindebundes, Gerd Landsberg, pflichtet darin den Ministerpräsidenten nicht nur bei, sondern zeichnet in Anbetracht der anstehenden kommunalen Aufgaben ein noch weit dramatischeres Bild: „Städte und Gemeinden stehen vor einer der größten Finanzkrisen seit Bestehen der Bundesrepublik Deutschland, hier muss der Bund einspringen", so Landsberg. Bei der Unterbringung der Flüchtlinge zum Beispiel soll der Bund nun seine Liegenschaften in den Ländern wie ehemalige Kasernen oder Verwaltungsgebäude des Bundes freigeben. Doch auch damit ist den Kommunen nicht geholfen. Die entsprechenden Gebäude stehen teilweise seit einem Jahrzehnt leer, müssten nicht nur komplett renoviert, sondern voll saniert werden, um sie bezugsfertig zu machen. Auch diese Kosten müsste der Bund übernehmen, wenn es nach den Ländern geht. In den Kommunen ist dafür kein finanzieller Spielraum mehr. Und dann ist da noch die Umstellung von Hartz IV auf das Bürgergeld und gleichzeitig die Ausweitung des Kreises der Wohngeldberechtigten von derzeit 600.000 auf etwa zwei Millionen Bezieher, was vor allem zu Lasten der Länder geht und zusätzliche Kosten bedeutet – ein Reformvorhaben der Bundesregierung in den Dimensionen der Einführung von Hartz IV vor fast 20 Jahren. Auch hier drängt die Zeit. Das alles soll bis zum ersten Januar nicht nur unter Dach und Fach sein, sondern auch in den Verwaltungen umgesetzt werden. Das Gleiche gilt für die mittlerweile kombinierte Gas- und Strompreisbremse. Auch hier wissen die Länder immer noch nicht, wer in die Gunst der staatlichen Hilfen kommen wird. Der böse Verdacht der Länder: Der Bund verschleppt die Verhandlungen darüber, um den Zeitdruck auf die Länder zu erhöhen und so in buchstäblich letzter Minute eine Einigung auf deren Kosten zu erzwingen. Doch ganz so einfach ist es nicht.
Für den 11. November war nun überraschend eine zusätzliche dringliche Zusammenkunft des Bundesrates geplant. Daran gibt es von den Staatskanzleien aus den Karnevalshochburgen im Südwesten der Republik Kritik, wie der scheidende Bundesratspräsident und Ministerpräsident Thüringens Bodo Ramelow (Die Linke) im FORUM-Gespräch berichtet: Ausgerechnet zum Beginn der „fünften Jahreszeit" eine Sondersitzung der Länderkammer abzuhalten, schien denen ziemlich unpassend.